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2/08 Flucht - Leseprobe

Cover der Fluchtausgabe

Sabine Boomers
Das Leben nach oben retten.
Zur Widersinnigkeit des Sich-Aussetzens in Risikopraktiken


„Irgendwann um das Jahr 1800 wäre das Ereignis zu datieren, dass Menschen zuerst es sich vorzustellen wagten: die Erde ist bis auf verschwindende Reste entdeckt, erobert, besetzt, verteilt, vermessen, beschrieben und im Zuge der rücksichtslosen Ausbeutung begriffen ... Inseln mag es noch geben, in den Meeren, Urwäldern, Wüsten, aber keinen Grund mehr für jenes ratlos Ängstliche der weißen Stellen auf den alten Karten: ‚Hic sunt leones‘“(Kamper 1982: 41). Dies die Worte, die auf römischen Landkarten unentdeckte Gebiete und das – mit der Entdeckungslust verbundene – Wagnis des Todes jenseits bekannter Grenzen markierten. Doch scheint der Reiz, der von einem Hinweis auf Löwen und anderlei Gefahrenpotential ausgeht, ungebrochen. Denn trotz der – unbeirrt eurozentristischen – Vermutung, dass es nichts Fremdes mehr zu entdecken gäbe, zeigen sich ebenso beharrliche Versuche, an immer neuen Stellen auf eine risikobringende terra incognita zu stoßen. Mehr oder weniger verzweifelte Versuche unterschiedlichster Couleur, wie etwa zum Zeitpunkt dieses Artikelschreibens die Besteigung der Rakhiot-Wand am Nanga Parbat, dem neunthöchsten Gipfel der Erde. „Es war klar,“ so Reinhold Messner, „dass sich früher oder später jemand an dieser Wand versuchen würde. Sie war die letzte an diesem Berg, die unversucht geblieben war“ (Messner 2008).

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2/08 Flucht - Inhaltsverzeichnis

Das Leben nach oben retten.
Zur Widersinnigkeit des Sich-Aussetzens in Risikopraktiken
Sabine Boomers

Fluchtspuren der Geschichte.
Verhängnis, Fluch und Erlösung Anmerkungen zu Walter Benjamins Geschichtsphilosophie
Marcus Hawel

Flucht und (nie) wieder zurück?
Konzepte von Zugehörigkeit und Identität bei bosnischen Flüchtlingen in Kopenhagen
Sanda Üllen

Freiwillige Rückkehr aus Österreich –
Kontext, Praxis und Kritik
Katerina Kratzmann

Bilder als Instrumente der Flucht
im imaginären Museum À Rebours’
Das Kultbuch einer Epoche als Manifest des Eskapismus
Juliette Israel

Flucht in digitale Scheinwelten.
Computerspiele als Fluchttechnik
Thomas Lackner

Flucht in die Vergangenheit.
Vom wachsenden Interesse an den familiären Wurzeln
Alexandra Kager

Flucht aus der Südsee?
Martin Zinggl

Kultur mit großem C.
Anmerkungen zu einem obskuren Trend
Jens Wietschorke

Kunstinsert
Melanie Dürr

2/08 Flucht - Editorial

Angesichts von mehr als 42 Millionen Menschen auf der Flucht vor Gewalt, Krieg oder Unterdrückung sprechen wir von einem globalen Phänomen. Beim Blick in die Geschichte lassen sich immer wieder Migrationsströme beobachten, wobei sich die „Freiwilligkeit“ oft auf die Einsicht in die Notwendigkeit beschränkt. Leichtfertig spricht man von Wirtschaftsflüchtlingen, um abzugrenzen, um der Das-Boot-ist-voll-Mentalität ohne schlechtes Gewissen anhängen zu können, ist doch auch der öffentliche Diskurs sehr ambivalent. „Flucht ist kein Verbrechen“, versucht die gleichnamige Initiative gegen vorherrschende Tendenzen anzukämpfen. Wenngleich diese Thematik wissenschaftliche Objektivität nicht gerade leicht macht, so haben doch gerade wir KulturwissenschafterInnen das Handwerkszeug, um die Problematik oder besser das Phänomen „Flucht“ aus anderen Blickwinkeln zu betrachten: Flucht bedeutet, einen Schlusspunkt zu setzen, bedeutet Ungewissheit und zeitweise Perspektivenlosigkeit, bedeutet, das Bisherige in Frage zu stellen, bedeutet aber auch Neuorientierung und Neubeginn, bedeutet ein Leben zwischen Angst und Zuversicht, zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. Der Umgang mit dem/den Fremden – zeitloser Kern vieler unserer Interessen.

Die eben genannten Konnotationen zum Begriff „Flucht“ sind jedoch nicht vollständig. Flucht-weg-von schließt auch die Flucht vor dem Alltag, vor der Zivilisation, die so oft als Ziel genannt wird, mit ein. Eine Flucht, für die zumeist das Rückfahrticket schon in der Tasche steckt. Sind die Versuche, selbstgeschaffenen Realitäten zu entkommen hoffnungslos, wie dies Enzensberger für die Urlaubsreisen schon vor Jahren entlarvte? Wie steht es heute mit den Versuchen der Zivilisation zu entkommen, die Greverus in den 1980er Jahren unter die Lupe genommen hat? Auch die Orte – real oder virtuell -, die eine Flucht zu lohnen scheinen, unterliegen dem Wandel, sind nicht identisch, sondern auch hier manifestieren sich vorfixierte Bilder des eigenen Lebensstils.

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