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Cover der Normalausgabe

Ulrike Langbein
Eine ganz normale Familie?
Unliebsame Fragen an eine geliebte Ordnung

"Normale Familien" sind verdächtig. Wo von ihnen gesprochen wird, ist das Gegenteil nicht weit. Mehr noch: Wenn die offiziellen Verlautbarungen "Normalität" behaupten, ist sie längst ins Wanken geraten. Die Rede von der "normalen Familie" ist eine Rede von der Krise, die sie gleichzeitig zu überwinden sucht. Die folgende Darstellung begibt sich deshalb nicht auf die ohnehin zwecklose Suche nach der realen Normalfamilie, sondern wendet sich ihrer symbolischen Konstruktion zu. Es werden drei ausgewählte Bereiche inspiziert: Familienordnungen, Familiendinge und -rituale. Gefragt wird, wer auf welche Weise und warum "Normalität" proklamiert und welche kulturellen Normen dabei gleichermaßen reflektiert und gesetzt werden. Die binären Ordnungen von normal/nicht-normal, die den Mikrokosmos Familie grundlegend strukturieren, werden Aufschluss geben über elementare Wertvorstellungen unserer Gesellschaft.

Familien(un)ordnungen: Vater, Mutter, Kind?

Die Klage von der "Krise der Familie", die Journalisten und Politiker im Zeichen von Scheidungsboom, Geburtenrückgang und "Vereinzelung" immer wieder anstimmen, hat seit bald zwanzig Jahren Konjunktur. Momentan tönt es wieder besonders laut. Denn Wahlkampf ist, wenn Politiker sich einmal mehr anschicken, die Familie zu retten. Dass es hier nicht nur um die Familie als "Keimzelle" der Gesellschaft geht, sondern auch um Keimzellen im unmittelbaren Sinne, versteht sich von selbst. Bevölkerungspolitik ist Familienpolitik ist Fruchtbarkeitspolitik. Damit wird zwangsläufig die klassische Vorstellung von Familie als Fortpflanzungsgemeinschaft reproduziert.

Wie wirkmächtig dieses Leitbild ist, zeigten im letzten Jahr auch die Debatten um die Homoehe. Selbst im ach so liberalen akademischen Milieu war häufig zu hören, dass man ja tolerant sei, dies aber nun doch etwas weit ginge. Das sei ja wohl Luxus, schließlich wäre es wichtiger, die "Familien" mit Kindern zu fördern. Schlüssige Antworten auf die Frage, was das eine mit dem anderen zu tun habe, gab es nicht. Aus der heterosexuellen Leitkultur lässt sich leicht mit Luxus und verschobenen Relevanzen argumentieren. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass auch die soziale Welt der Schwulen und Lesben, die oft und gerne als wilde Subkultur imaginiert wird, die traditionelle Ehe als symbolische Legitimation übernimmt und einfordert. Ehe und Familie bilden auch hier das "Idealmodell für die menschlichen Beziehungen" und funktionieren als wirkmächtige "Konstruktions- und Bewertungsprinzipien" der sozialen Ordnung.

Eben deshalb ist das Leitbild von Ehe und Familie zäh wie Pech. Es ist erzkonservativ und reagiert nur sehr träge auf gesellschaftlichen Wandel. Es ist hochgradig normativ und ideologisch, denn es negiert Differenz und Vielfalt und erhebt ein historisches Produkt in den Stand eines Naturgesetzes. Familie heißt "natürlich" Heteropaar mit gemeinsam gezeugten Kind(ern). Die historische Mission der Familie ist die Fortpflanzung. Seid fruchtbar und mehret Euch. Dieses Bild nimmt machtvoll Normalität für sich in Anspruch und konstruiert dabei das, was vermeintlich nicht normal ist. Dabei fragt sich, was diese Welt im Innersten zusammenhält, wenn keine Kinder da sind und/oder die Norm der Zweigeschlechtlichkeit langsam untergraben wird. Vielleicht ist es nicht mehr als der Glaube an die Eigentlichkeit und Natürlichkeit einer sexuellen Konstellation, die im Grunde nur eine Möglichkeit von vielen ist.

Durch den Rost der Normalität fallen aber nicht nur Schwule und Lesben. Auch wird am glänzenden Lack der heiligen Familie nicht erst heute gekratzt. Familiengeschichten und -dokumente verweisen bei genauer Betrachtung einerseits auf Norm- und Tabubrüche, wie sie andererseits von dem kompensierenden Bestreben nach Herstellung von Normalität getragen sind. Um nicht im fremden "Dreck" zu wühlen, greife ich auf Beispiele aus der eigenen Familie zurück. Im Alter von etwa sieben Jahren (Kinder sind große Spießer) fiel mir auf, dass Tante Erna anders war als die anderen Frauen. Sie war Jahrgang 1905 und von Beruf Fotografin. Sie rauchte wie ein Schlot, war eine sehr schöne Frau und hatte der Kleinstadt früh den Rücken gekehrt. Ich fragte meine Großmutter, warum Tante Erna denn keinen Mann und keine Kinder habe und bekam lange keine Antwort. Erst als ich die Schwelle der Pubertät überschritten hatte, antwortete Großmutter in ihrer moralinsauren Weisheit: "Die Erna, die hat zu viele Männer gehabt, um einen haben zu können." Noch später wurde ich in ein anderes Geheimnis eingeweiht. Meine andere Tante Erna, 1900 geboren, ebenfalls Fotografin (ob die wohl besonders wild waren?), war zeitlebens mannlos geblieben. Auch bei ihr war etwas falsch gelaufen, denn sie war "andersrum", lesbisch. Fremd waren beide Ernas, man akzeptierte sie als bunte Vögel, amüsierte sich über ihre Schrulligkeit. Gleichzeitig wurde ihr Schicksal bedauert, das gemessen an der kulturellen Norm einfach nur traurig sein konnte. Die Tanten liebte man als Exotinnen, sie blieben gern in ihrer eigenen Welt und waren deshalb keine Gefahr. Hingegen waren andere Fremde bedrohlich, weil sie sehr nahe kamen:

Als Ende der 1960er Jahre der erste Mann in der Familie eine "Geschiedene" und noch dazu eine mit Kind anschleppte, war das eine ziemliche Katastrophe. Schließlich verstand man sich als "normale Familie", schließlich war man wer in der Kleinstadt. Großvater nannte das Kind einmal den "Kuckuck". Der Kuckuck, der ja bekanntermaßen im fremden Nest hockt, hatte es schwer, auch seine Mutter. Zwar wurde geheiratet und adoptiert und damit formal integriert, mental und emotional aber blieben die beiden draußen.

Noch viel fremder, weil eigentlich gar nicht vorhanden, waren die Ergebnisse amouröser männlicher Abenteuer. Für die "Kinder der Wildbahn" (wie man in Thüringen sagt) wurde zwar bezahlt, aber man sprach nie von ihnen, sie existierten quasi nicht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die "normale Familie" besteht auf Monogamie, auch wenn dieses Ordnungsprinzip allenthalben irritert wird. Vermutlich wird der Erbfall, wenn die "Bastarde" ihre familiäre Zugehörigkeit übers Blut monetär einfordern, für einigen Wirbel sorgen. Erst seit 1970 haben nichteheliche Kinder in der Bundesrepublik einen Erbersatzanspruch, bis dahin galten sie als nicht verwandt mit ihrem Erzeuger. Unterschiede bestehen aber weiterhin, denn Erbersatzanspruch heißt, sie sind nicht wirklich Erben und können in der Erbengemeinschaft nicht mitreden. Sie haben lediglich einen Geldanspruch, persönliche Gegenstände, etwa Erinnerungsstücke, stehen ihnen nicht zu. In der DDR wurden eheliche und nichteheliche Kinder im Zuge der neuen Zivilgesetzgebung schon Mitte der 1960er Jahre vollständig gleichgestellt. Beide waren erbberechtigt und hatten im Erbfall volles Mitspracherecht. Die "Entbürgerlichung", die in vielen Bereichen grausame Konsequenzen zeitigte, verging sich auch am bürgerlichen Familienideal. Mit Blick auf Familienrealitäten war sie aber durchaus lebensnah und human. Zoff gab und gibt es allerdings hier wie da, weil zwischen geltendem Recht und sozialer Praxis ein himmelweiter Unterschied besteht. Die traditionellen Gerechtigkeitsvorstellungen sind nach wie vor wirksam. Eine ihrer Grundlagen ist die hierarchisierte Differenz ehelich/nichtehelich, welche die soziale Welt bis heute ordnet.

Überhaupt sprechen die Bezeichnungen eine eindeutige Sprache: leibliche und adoptierte Kinder, Stiefgeschwister, Stiefmutter, Scheidungskinder, Ersatz- und Patchworkfamilie. Wo Sprache unterscheidet, ist kulturelle Differenz, sind soziale Grenzziehungen. Alleinerziehende mit Kind nennt man nicht Familie, auch nicht Verheiratete ohne Kinder, das sind Ehepaare oder DINKs, und Ehen ohne Trauschein heißen Lebensgemeinschaft. Im Sprachgebrauch bildet sich bis heute das bürgerliche Familienideal ab, das Georg Simmel schon 1907 ziemlich skeptisch betrachtete. In seinen "Fragmenten aus einer Philosophie der Liebe" beschreibt er, dass es "soziale Zweckmäßigkeiten" sind, die "den Glauben an Einheitlichkeiten und unbedingte Zusammengehörigkeiten" züchten. Gänzlich unaufgeregt nimmt Simmel das romantische Bild der vermeintlich zweckfreien (bürgerlichen) Liebe auseinander und zeigt, dass Ehe und Monogamie Menschen in spezifischen, auf "Ewigkeit" pochenden Konstellationen aneinander binden und damit Gesellschaft strukturieren. Es sind soziale Ordnungen, die Normalität und Dauerhaftigkeit in Anspruch nehmen, aber durch den "Differenzierungsprozess der modernen Kultur" an Verbindlichkeit verlieren, fragwürdiger und fragiler werden.

Ein knappes Jahrhundert später ist Simmels Vision Realität, das moderne Chaos scheint perfekt. Fast ließe sich marxistisch argumentieren, denn eine quantitative Anhäufung führte zu einem qualitativen Sprung: Die Differenzierung hat Lebensformen vervielfacht, damit hat die "normale Familie" im Alltag an normativer Kraft verloren. Für viele ein Zugewinn an Freiheit. Die Propheten des Untergangs jedoch zeichnen düstere Horrorszenarien einer "zerfallenden Familienharmonie" in der "vollmobilen Singlegesellschaft". Wo sich die Rede vom Zerfall lauthals Gehör verschafft, sind die Ideologien nicht weit. Wer vom Untergang spricht, sitzt dem Glauben an ewig Gültiges auf. Wer soziale Ordnungen jedoch als dynamische, zeit- und zweckgebundene Strukturen begreift, wie Simmel, hält den Wandel aus. Kultur, und damit auch Familie, ist nicht zuletzt ein Prozess der Entstehung, Auflösung und Neuformierung von Lebensformen, von Norm- und Wertesystemen. Es gibt keinen Flächenbrand, der die Familie als vielfältig gestaltbaren Lebenszusammenhang zerstört. Was verbrennt, ist eine Familienideologie, die dem Alltag nicht mehr stand hält und vermutlich schon Nachfolgerinnen produziert. Na und? Es wäre nicht das erste Mal. Weltbilder sind wichtig, weil sie Orientierung bieten, aber sie sind auch in Bewegung. C'est la vie.

Familiendinge: Album, Locken, Porzellan?

"Ein entferntes Mitglied der Familie" - so stellt die Süddeutsche Zeitung am 20. März 2002 den neuen Mercedes Vaneo 170 CDI vor. Ein "Wagen für Leute mit vielen Kindern", "leider" ohne die üblichen "Markenwerte", nicht schön oder sexy, aber praktisch: integrierte Kindersitze, seitliche Schiebetüren, damit die Mischpoke aussteigen kann, ohne die Türen anzuschlagen, Klapptische an der Rückenlehne der Vordersitze, um das Geschrei der lieben Kleinen durch Spielen in Grenzen zu halten, reichlich Stauraum, weil es nahezu beängstigend ist, was die "normale Familie" glaubt, auf Reisen zu benötigen. Jüngst durfte ich eine Familie erleben, die Eltern Mitte dreißig, mit einem zweijährigen Kind, die es fertigbrachte, für den dreiwöchigen Urlaub in der Provence einen Volvo-Kombi mit Dachgepäckträger komplett vollzustopfen mit Zeug, das man "unbedingt braucht": Turn- und Halbschuhe, Gummistiefel und Sandalen für das Gör (man weiß ja nie!), Kleidung für alle drei in ähnlichem Umfang, Bobbycar und Dreirad, dazu zwei Fährräder für die Eltern, Wickelauflage und Pampers, Biomüsli, Sonnenschirm und Luftmatratze, Kühltasche, Bügeleisen, Reiseapotheke, Wasserfilter ... Hilfe! Als wollte man die Wüste durchqueren, als gäbe es nirgends etwas zu kaufen, als würde der Familienstatus der Kunst der Improvisation endgültig den Garaus machen. Vorbei die Zeit des ballastarmen und freien Reisens. Farewell Rucksack, welcome Kombi! Die normale Familie will es praktisch und wie daheim. Nicht am Trauschein, sondern an den Dingen sollt ihr sie erkennen. Der Übergang vom Einzel- zum Familienmenschen zeitigt auch noch andere schwergewichtige Veränderungen der Dingwelt: Die erste Einbauküche verspricht Vorratshaltung und regelmäßiges Essen, Stabilität und Etablierung. Vorhänge, Teppiche und Wolldecken, Sofa und Sessel (selbstredend ausgesucht von zarter Hand) halten Einzug. Textilien sind der Stoff, aus dem Familien sind. Sie wärmen, machen weich und "gemütlich", das Nest wird gebaut. Wenn sich Nachwuchs ankündigt, wird die Kinderwiege aus dem Elternhaus geholt, in der man selbst schon lag. Oder Manufaktum, zuständig für die "guten Dinge", liefert die Kinderzimmer-Edelvariante aus ökologisch-korrekt geöltem Buchenholz im Wert eines Mittelklassewagens. Unser Kind soll es besser haben! Das Glück ist perfekt, wenn das eigene Häuschen im Grünen steht und im Garten die Kinderschaukel fröhlich quietscht. Man hat es geschafft, die Familie ist angekommen.

Wer aber käme ernsthaft auf die Idee, Tiefkühltruhe, Kombi oder Schnellkochtopf als "Familiendinge" zu bezeichnen und als solche zu tradieren? Zwar prägen sie den familiären Alltag unserer Tage nachhaltig, zwar markieren sie eine Statuspassage, doch widerstrebt ihr profaner Charakter der Klassifikation als "Familiendinge". Diese nämlich werden geschont und inszeniert, bewahrt und begehrt. Man fürchtet sich vor ihrem Verlust oder der Zerstörung. Im Erbfall werden sie zum Streitobjekt. Es wird von ihnen erzählt, die Geschichten werden tradiert. Man könnte nun einwenden, dass auch das Auto ein Familiending ist, weil gespart und mit Bedacht ausgewählt wurde, weil es geputzt wird, weil mancher den ersten Wagen genauso stolz präsentiert wie den Erstgeborenen. Freilich ist all das möglich, aber eher selten. Denn dominant technisch und funktional bestimmte Objekte sind dem Fortschritt und dem Gebrauch verpflichtet, nicht Dauer und Schonung. Mit dem Alter sinkt ihr Wert, Wechsel steht an. Familiendinge hingegen werden als Erinnerungsstücke gedacht, je älter, desto wertvoller. Sie sollen dem Zahn der Zeit standhalten und der sentimentalen Logik von Überdauern, Nostalgie und Gefühl gehorchen. Als "Träger des Familiengedächtnisses" verkörpern Fotos, Möbel oder Stammbäume Geschichte und Identität. Sie überwinden soziale Verluste und symbolisieren den Fortbestand der Gruppe, machen erlebte Geschichte nacherlebbar und setzen sie "in alle Ewigkeit" fort.

Dass es mit dem Nacherleben so eine Sache ist, problematisierte Susan Sontag am Beispiel der Fotografie schon Mitte der 1970er Jahre: Fotos sind ein "Mittel zur Beglaubigung von Erfahrung", nicht der Nachvollzug der Erfahrung selbst. Sie vermitteln eine imaginäre Vergangenheit, denn Erinnerung verfährt selektiv, gestaltet. Insofern belegen Familiendinge weniger einen Alltag, der tatsächlich erlebt wurde. Vielmehr kreieren und repräsentieren sie Vorstellungen von einer geglückten Existenz. Deshalb katapultiert die Bezeichnung "Familiendinge" eine besondere gegenständliche Welt vor das innere Auge: Fotoalbum und Briefe, Großmutters Hochzeitskleid und "gutes" Porzellan aus ihrer Aussteuer, erste Haarlocken und ein Ehering, die alte Käthe-Kruse-Puppe und das Vertiko aus dem "Elternhaus", das einen ganzen Lebensplan impliziert, weil es das "Familienleben" verortet und symbolisch rahmt und weil es den "Familienverband" dauerhaft "im Eigentum" verankert.

Die beschriebene Dingwelt ist zwar vielfältig, aber nicht beliebig. Die Sachen, die normalerweise als Familiendinge gedacht werden, sind lieblich, sanft und rein, nicht aggressiv oder technoid. Sie singen gefühlsselig das Eiapopeia der Innenwelt und künden süß vom trauten Heim. Als Leitfossilien bürgerlichen Familienlebens verweisen sie auf die personelle Normalkonstellation von Vater, Mutter, Kind(ern), auf das Harmoniegebot und glückliche Kindertage, auf den Willen zur Repräsentation und eine geschlechtsspezifische Gewaltenteilung. Mit einem vergleichsweise festgefügten Kanon von Gegenständen korrespondiert ein ebensolches Familienbild. Vom Zerfall und von zerbrochenen Existenzen erzählen die Dinge nicht, und wenn, dann so, dass irgendwann doch noch Phönix triumphierend aus der Asche steigt:

Die Pfarrersfrau und dreifache Mutter Edelgard Luhn (Jahrgang 1919) aus einem brandenburgischen Dorf hatte sich in den 1960er Jahren von ihrem Mann scheiden lassen. Der Pfarrer hatte die Kinder regelmäßig grün und blau geschlagen, war ein unglaublicher Geizkragen und zu allem Übel auch noch fremdgegangen. Frau Luhn zog einen Schlussstrich und hatte dann unter den Folgen der Scheidung zu leiden. Sie war permanent in finanziellen Nöten und im Dorf stigmatisiert. Eine Geschiedene und noch dazu eine, die den Herrn Pfarrer verlassen und das reine Pfarrhaus beschmutzt hatte, war unten durch. Das war der Subtext, nicht aber die Geschichte, die Frau Luhn verlauten ließ. Die nämlich erzählte von einer Frau, die aus sehr einfachen Verhältnissen kam und sich nach dem bürgerlichen "christlichen Leben" an der Seite eines Pfarrers gesehnt hatte. Sie berichtete von einer Frau, die einen stolzen Hausstand hatte und ihrem Manne dienen wollte, von einer Mutter, die sich für ihre Familie "aufgeopfert" hatte und mit der Scheidung die Kinder vor der harten Hand des Vaters retten wollte. Die Geschichten und auch Frau Luhns Familiendinge (ein Steinway-Flügel, wertvolles Rosenthal-Porzellan, hochwertiges Weißzeug, ein Seidenteppich) sprechen die gleiche Sprache: Sie repräsentieren das bürgerliche Pfarrhaus und seine Familie. Somit bleibt die Geschichte vom Untergang auf die heile Welt bezogen, und fast scheint es, als beschwörten gerade die Gebrochenen das Ideal einer geglückten familiären Existenz.

Die Verortung im trauten Heim ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Klassifikation als Familiending. Dieses nämlich soll nicht nur eine heile, sondern auch eine beständige Welt symbolisieren. Das Leben geht seinen Gang, verändert sich, allein die Dinge bleiben; neben ihre räumliche tritt eine zeitliche Bestimmung. Die französische Historikerin Anne Martin-Fugier erkennt im "Glück des Erinnerns" ein entscheidendes Kulturmuster des Bürgertums im 19. Jahrhundert: "Das ‚raunende Imperfekt' beschwor wehmütig die vergangenen Tage, die Sehnsucht nach dem, was unwiederbringlich vorbei ist ... Das Imperfekt häufte Erinnerungsbilder auf, von denen die Gegenwart verzaubert wurde. Augenblicke des Glücks wurden aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, um ihnen Dauer zu verleihen." Ein evolutionistisch geprägtes Denken, das sich der Vergänglichkeit bewusst ist, bringt das nostalgische Kulturmuster der Verewigung hervor und braucht Objekte, die sich als "Register der verstreichenden Zeit" anbieten. Dazu eignen sich Erinnerungsstücke, denen die Zeitlichkeit eingeschrieben ist: Tagebuch und Poesiealbum, ein Porträt in Öl und die erste Ultraschallaufnahme, Briefe und Fotos, der erste Schuh usf.. Das zur Verfügung stehende symbolische Reservoir ist auch hier nicht beliebig. Verbietet die Ideologie der Innerlichkeit alles Aggressive und Technoide in der Welt der Familiendinge, so sperrt das Gebot der Dauer die Sachen aus, die alltäglich benutzt und dabei verbraucht werden. Und sollte doch einmal ein schnödes Gebrauchs- zum hehren Familiending geadelt werden, dann verändert der Prozess der Auratisierung den Gegenstandscharakter: Das Ding ist zur Reliquie geworden und wird diesem Status entsprechend behandelt. Es wird nicht mehr unbedacht benutzt, sondern verehrt und sogar aus dem alltäglichen Verkehr gezogen, damit geschont wird, was heilig ist und deshalb überdauern soll.

Die Gattung der Familiendinge ist sehr erlesen, eine Selektion hat stattgefunden und die Dinge in der ehrenwerten Welt des Dauerhaften platziert, in der sie die Geste der Andacht umgibt. Hintergrund und Fundament dieser Verklärung, die über die Zeit (das "alte" Objekt) und über den Raum (das Objekt der Innenwelt) geschieht, ist ein Dogma der bürgerlichen Gesellschaft. Die affektiv hochbesetzte Idee der bürgerlichen Familie im Sinne einer dauerhaft und emotional verbundenen Gemeinschaft ist das ganz normale Heilige, das in den Familiendingen sinnfällig und im sentimentalen Kult der Erinnerung angebetet wird.

Weil dieses Rührstück fest in den Köpfen verankert ist, käme wohl kein Mensch und auch nicht die Familienforschung auf die Idee, den stinknormalen Kombi als Familiending bezeichnen zu wollen. Schade eigentlich.
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    Die Fortsetzung dieses Beitrages finden Sie in der Ausgabe 02/1: normal