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Cover der Ostwärtsausgabe

Sönke Löden
Eine Frage der Werte.
Vom Modus des ostdeutschen Fortlebens

Am 25. Oktober 2001 erschien in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Artikel mit dem Titel "Der Sozialismus siegt". Der Autor behauptete darin, der Sozialismus in Ostdeutschland sei zwölf Jahre nach der Wende nicht nur nicht untergegangen, er sei vielmehr so lebendig wie nie zuvor: "Politisch hat der SED-Staat verloren. Wirtschaftlich hat er versagt. Kulturell jedoch ist die DDR allgegenwärtig, obwohl es diesen Staat seit zwölf Jahren nicht mehr gibt." Der Autor konstatierte, dass nicht nur eine wie auch immer geartete und artikulierte Ost-Identität oder eine aus Zitaten collagierte "Ostalgie" die Bevölkerung der neuen Bundesländer erfasst habe, sondern dass eine "Kultur der Gleichmacherei, des Proletarischen und des Antikapitalistischen" vorherrsche, die tief im Habitus der ostdeutschen Bevölkerung verankert sei. Es gehe nicht allein um einzelne Elemente, die aus dem Arsenal des öffentlichen Lebens, der sozialistischen Kultur und der Konsumwelt der DDR gerettet worden seien und nunmehr gehegt und gepflegt würden, seien es der "Trabant", die Jugendweihe oder die Kindertagesstätten. Vielmehr sei es eine Grundhaltung, ein spezifisches Geflecht von Normen, Werten und Verhaltungsweisen, eben eine Kultur, die sich paradoxerweise gerade dann voll entfaltet habe, als der äußere Druck zur Entfaltung dieser Kultur verschwunden sei. Der Autor bedauert diese Entwicklung und befürchtet, sie könne die Zukunft Ostdeutschlands negativ beeinflussen.

Dass die soziale und kulturelle Integration Ostdeutschland voraussichtlich wesentlich längere Zeit in Anspruch nehmen wird als die Installation eines neuen politischen und wirtschaftlichen Systems, ist eine gängige Behauptung im Diskurs um die deutsche Einheit. Das "Zusammenwachsen" von Ost und West gilt als langwieriger Prozess, bedingt durch einen cultural lag, der durch tief eingeschriebene Denk- und Verhaltensmuster der Ostdeutschen begründet sei. Nachdem sich über 13 Jahre nach der Wende ein stabiles Eigenbewusstsein in Ostdeutschland herausgebildet hat, wird neben der Angleichung der Lebensverhältnisse die Anpassung der Lebenswelt als Hauptaufgabe der Zukunft angesehen. Das Gelingen der "inneren" Einheit scheint aber durchaus nicht garantiert. Argumentiert wird dabei nicht zuletzt mit dem komplexen Wandel des symbolischen Raumes, in dem sich die Menschen der Umbruchgesellschaften befinden: Die Brüche in den Identitäten und der Zwang zur Umschreibung der eigenen Biographie erzeugen demnach Irritationen und einen "Verlust an Gewißheit", der eine Neuorientierung eher erschwere.

Es ist einigermaßen erstaunlich, dass ausgerechnet die Sphäre der Kultur, die doch über die 40 Jahre währende Teilung als das einigende Band beider deutscher Staaten angesehen wurde, in der Nachwendezeit zum entscheidenden Hindernis für diese "innere" Einheit geworden ist. Dies wird gerne als eine Art "späte Rache" des Sozialismus angesehen, und dementsprechend unwirsch und ungeduldig reagiert das westliche Deutschland auf den als mangelnde Anpassung interpretierten ostdeutschen "Sonderweg". Was aber genau hat das realsozialistische System über einen Zeitraum von 40 Jahren bewirkt, dass es heute zwar von kaum einem Ostdeutschen zurückgewünscht, aber doch als "habituelle Disposition" weitergelebt wird? Was steht eigentlich hinter der "ostdeutschen Mentalität?" Worauf "beharren" die Ostdeutschen, wenn sie angeblich an ihrer kulturellen Eigenart festhalten? Und handelt es sich bei der Ost-West-Debatte tatsächlich um einen "Kulturkampf", wie der FAZ-Autor befand?

Meiner Auffassung nach ist das Überdauern ostdeutscher Kultur für die Betroffenen zuvörderst eine Frage der Werte. Diese Werte werden durchaus offensiv vertreten, eine Haltung, die nichts mit einer mangelnden Kompetenz zur Anpassung der individuellen Lebensgeschichte an die inzwischen nicht mehr so neuen Verhältnisse zu tun hat. Will man die Probleme des Ost-West-Verhältnisses in Deutschland behandeln, so erscheint mir ein Blick auf das "Ethos" von Kulturen, um einen Begriff von Rolf Lindner aus einem anderen Zusammenhang zu benutzen, von Interesse zu sein. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass dieses von Lindner beschriebene Ethos auch mit dem Begriff der klassen- oder schichtengebundenen "moralischen Ökonomie", wie Thompson ihn für die englische Arbeiterklasse verwendet hat, gekennzeichnet werden kann.

Ethos und Gesellschaftsstruktur

"Ethos" meint die von sittlichen und moralischen Normen geprägte Grundhaltung eines Einzelnen oder einer Gruppe, wobei sich diese Normen auf bewährte Traditionen stützen. Nach Lindner zielt ein kulturanthropologischer Ethos-Begriff auf die "‚Tönung' einer Gesellschaft" oder auch den "‚Charakter', den ‚Stil' einer Kultur". Betont wird weniger der moralische Charakter der Anschauungen im engeren Sinne, als vielmehr die "Neigungen" der Mitglieder der jeweiligen Kultur. In seinen Ausführungen zum Ethos der Region Ruhrgebiet verweist Lindner auf die "soziale Monokultur" und die "homogene Soziallandschaft" des Reviers, die bedingt war durch die Dominanz der Arbeiterklasse und ihrer Lebensweise bei gleichzeitigem Fehlen einer bürgerlichen Klasse. Der im 19. Jahrhundert aufsteigende industrielle Wirtschaftsraum Ruhrgebiet formierte sich zugleich als sozialer Raum, in dem ein bestimmter Vergesellschaftungsmodus dominierte, nämlich, so Lindner, das erweiterte kinship-System, also ein Netz von verwandtschaftlichen und quasi-verwandtschaftlichen Beziehungen. Dieses kinship-System wiederum war Träger eines spezifischen Ethos, da es Verhaltensregularien und sittliche Normen reproduzierte, von denen es selbst wiederum getragen wurde.

Das von Lindner für das Ruhrgebiet beschriebene Ethos weist verblüffende Ähnlichkeit mit dem für die DDR feststellbaren Typus einer sozialen "Tönung" auf, die vor allem an die Betriebe geknüpft war. In der "arbeiterlichen Gesellschaft" (W. Engler) der DDR kam den volkseigenen Betrieben eine Schlüsselrolle zu: Der VEB war das "Zentrum des sozialen und gesellschaftlichen Lebens" der DDR . In Gestalt von "integrierten Modellen" sollten sie nicht allein Produktionsstätten sein, sondern "gesellschaftliche Basisinstitutionen" , in denen wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Zwecke integriert waren. Betriebe galten als die Erziehungsstätten für den "sozialistischen Menschen", sie boten sozialen Kontakt, materielle Versorgung und kulturelle Aktivitäten für die Beschäftigten und waren damit "Vergesellschaftungskerne im Realsozialismus" (ähnliches gilt für die Betriebe im Ruhrgebiet des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Zwar waren diese integrierten Funktionen des Betriebes von Seiten des Staates bzw. der SED monopolisiert und beherrscht, doch bildeten sich jenseits offizieller Regularien informelle Netzwerke heraus oder, wie Lutz Marz es recht drastisch formulierte, "Zwangskreisläufe der Beziehungsarbeit" : trotz (oder gerade wegen) der erheblichen politischen Durchdringung und Regulation betrieblichen Lebens basierte ein großer Teil alltäglicher Abläufe auf den persönlichen, nicht vertraglich geregelten Beziehungen der Beschäftigten, auf die auch die Leiter Rücksicht nehmen mussten, wenn sie den Betrieb am Laufen halten wollten. Diese Netzwerke erfüllten nicht nur ähnliche Funktionen, wie sie Lindner für das kinship-System des Ruhrgebietes beschreibt, also etwa das "Prinzip der basisnahen Stellvertretung", die Ausübung eines aktiven Paternalismus oder das "speaking for"-System (mustergültig verkörpert in der Rolle des Brigadiers, der oftmals gegenüber dem Kollektiv eine Vaterrolle einnahm), sie wurden auch von einer ähnlichen Moralität getragen, so etwa von dem "do-ut-des"-Prinzip und von einem ausgeprägten Arbeitsethos. Sowohl für das Ruhrgebiet als auch für die DDR lässt sich festhalten, dass physische Kraft bzw. manuelle Arbeit einen hohen Stellenwert besaßen, dass das "Zupacken" als Tugend galt und dass die Sphären von Arbeit und Freizeit über diese Normen verknüpft waren. Die strukturellen Ähnlichkeiten ließen sich noch weiter ausführen, und es erscheint verlockend, diese Gemeinsamkeiten mit der Frage zu verbinden, inwieweit es sich bei den gesellschaftlichen Verhältnissen des Ruhrgebiets bzw. der DDR um verwandte Modernitätsformen handelt. Die schwierige Diskussion um die Frage, inwieweit es sich bei der DDR um eine moderne oder eine vormoderne Gesellschaft handelt, soll hier aber ausgespart bleiben. Interessanter erscheint die Frage, wie sich diese an der Arbeitswelt festzumachenden Ähnlichkeiten als kulturelles Phänomen interpretieren lassen - was also hinter der vom FAZ-Autor festgestellten "Kultur des Proletarischen" wirklich steckt.

Moralische Fragen im deutsch-deutschen Diskurs

In der alten Bundesrepublik und in der DDR wurde die gleiche Sprache gesprochen, dabei wurden aber Begriffe benutzt, die jeweils etwas ganz Unterschiedliches aussagten. Dies lässt sich besonders deutlich an den von beiden Seiten geteilten Werthaltungen festmachen, wie sie nach 1990 in zahlreichen Untersuchungen festgestellt wurden, also an ihrer spezifischen Moralität. So sprechen seit 1989/90 beide Seiten z.B. von "sozialer Wärme" oder von "Solidarität"; doch obwohl die Argumentationen in den gleichen Zusammenhängen verwendet werden, scheint jeweils etwas anderes gemeint zu sein; zumindest zeugen davon die gegenseitigen Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Auch bei Begriffen wie "Freiheit" oder "Gleichheit" gibt es erhebliche Ost-West-Differenzen; diese liegen nicht allein in der unterschiedlichen Hochschätzung der jeweiligen Begriffe (für Ostdeutsche ist "Gleichheit" ein höherer Wert als "Freiheit"; bei den Westdeutschen umgekehrt), sondern eher noch darin, dass den Begriffen verschiedene Bedeutungen zugemessen werden. Daher liegt die Vermutung nahe, die Verwendung der Begriffe, ihre "Färbung", sei systemspezifisch und daher unterschiedlich gewesen. So wie ästhetische Ideale (z.B. Schönheit) klassenmäßig in unterschiedlicher Weise gebraucht und verstanden werden und daher eine Verständigung über sie zwischen den Klassen schwer möglich erscheint , so werden auch die Begriffe unterschiedlich gebraucht und mit Sinn gefüllt.

Es gibt einen gegenseitigen Vorwurf zwischen Ost und West, der diesen Sachverhalt m.E. zutreffend beschreibt. Vor einigen Jahren kursierte in Ostdeutschland eine populäre Witzfrage, die, inzwischen etwas aus der Mode gekommen, auf einen spezifischen kulturellen Unterschied zwischen "Ossis" und "Wessis" abhob: Warum gehen Westdeutsche 13 Jahre zur Schule, die Ostdeutschen aber nur zwölf Jahre? Antwort: Die Westdeutschen nehmen zusätzlich noch ein Jahr Schauspielunterricht. Dieser Witz besagt, die Westdeutschen hätten eine spezifische Ausbildung als Schauspieler genossen, die der Kapitalismus als Grundanforderung stelle; nur durch die Aufrichtung einer Fassade und ein gewisses Maß an Unehrlichkeit könne der "Wessi" überhaupt angemessen in seinem System agieren. Mit dem Witz konnten die nach der Wende eingetretenen Enttäuschungen über unerfüllte Hoffnungen und Erwartungen über die kapitalistische Gesellschaft ausgedrückt werden, die viele Ostdeutsche als Täuschungen durch den Westen und insbesondere westdeutsche Politiker wahrnahmen. Basierend auf der Erfahrung, dass die eigenen habituellen Dispositionen in den neuen Verhältnissen dysfunktional geworden waren, wurde die eigene, ostdeutsche Gesellschaft dagegen als ehrlich und geradezu zur Verstellung unfähig dargestellt - weshalb eben auch so viele Bürger der ehemaligen DDR auf diverse betrügerische Machenschaften (im Kleinen wie im Großen) hereingefallen seien.

Für Westdeutsche mochten diese Aussagen nicht nur wie ein ungerechtes Pauschalurteil klingen, sie waren darüber hinaus auch höchst irritierend: Waren es nicht vielmehr die Ostdeutschen, die eine Begabung zum Schauspiel mitbringen mussten, um im realsozialistischen System zu überleben? Musste nicht stets das Doppelspiel zwischen systemkonformem Verhalten einerseits und individuellem "Eigensinn" andererseits geprobt und aufgeführt werden? Konnte man von der DDR etwa nicht als einer "Nischengesellschaft" reden, in der lediglich der beschränkte Raum des Privaten den Rückzug von der Bühne öffentlicher Darstellung erlaubte? Ist nicht das "Leben in der Lüge", von Bürgerrechtlern in Wendezeiten angeprangert, das DDR-typische Leben gewesen?

Natürlich ist die Vorhaltung der Schauspielerei unabhängig von ihrer Provenienz eine Unterstellung, die im Einzelfall so "witzig" nicht ist. Hinter dieser Bezichtigung steht der Vorwurf der Unehrlichkeit: Der eine macht dem anderen etwas vor; er hat gewissermaßen unehrliche Verhaltensweisen habitualisiert. Nun macht es m.E. wenig Sinn, danach zu fragen, wer Recht hat und wer nicht; auch ist eine Kompromisshaltung fragwürdig, in der beide Seiten "aufeinander zugehen" sollen, indem sie Zugeständnisse machen und eigene "Fehler" einräumen. Denn hier geht es gar nicht um "Fehler", sondern um unterschiedliche Gebrauchsweisen von Begriffen, die gesellschaftlich verankert sind. Während in der DDR diese Gebrauchsweisen auf der Basis des Prinzips des verwandtschaftsförmigen Netzwerkes erprobt wurden, sind sie im kapitalistischen Westen auf der Basis schichtenspezifischer Differenzierung zur Anwendung gekommen. Während in der DDR die (selektive) Reziprozität der Beziehungen entscheidend für die soziale Organisation war, waren es im Westen stärker ihre hierarchische Reproduktion, für die es jeweils eigene Kriterien gab. Während die Rollenausübung in der DDR in den meisten sozialen Situationen komplex war und daher auch die Verwendung von Begriffen interaktiv ausgehandelt wurde, wurde das westliche Rollenspiel funktional getrennt ausgeübt und durch eine gegebene formale Situation definiert. Damit aber unterschieden sich die Modi der Bedeutungsfindung von Sprache und Symbolen zwischen Ost und West. Die eklatanten moralischen Verwerfungen, die sich darin zeigen, dass man dem jeweils anderen das Recht beschneiden will, Begriffe in einem bestimmten Sinne zu benutzen, rühren m.E. aus diesen gesellschaftsspezifischen Bedeutungsfindungsprozessen. Das kulturelle Referenzsystem der jeweils anderen Seite (welches als ein Verweisungssystem von Werten und Normen, d.h. ein Ethos, verstanden werden kann) wird insgesamt angegriffen: Hieran zeigt sich deutlich, dass man "Kultur" als eine Übertragung gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Wertesystem bezeichnen kann. Und hieraus wiederum leitet sich das Gefühl der Kränkung ab, dem besonders (aber keineswegs ausschließlich) die Ostdeutschen unterliegen: Ihnen werden nicht einfach bestimmte Fehler und Mängel unterstellt, sondern moralische Defizite, die daraus resultieren, dass die DDR als neo-traditionale Gesellschaft andere Wertesysteme hervorgebracht hat als die moderne westliche Gesellschaft der alten Bundesrepublik, die als einzige (wenn auch in veränderter Gestalt) übrig geblieben ist und daher das "Recht des Siegers" für sich in Anspruch nimmt.

Blicke zurück und nach vorn

Es gibt demnach also nach wie vor eine "ostdeutsche Kultur", die durch das Festhalten an Werten bestimmt wird. Dabei geht es nun aber weniger um eine "proletarische Kultur" und damit um einen eigentlich obsoleten "Kulturkampf" zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Entscheidend sind nicht die ideologisch oktroyierten Werte, sondern die systemisch beeinflussten Vergesellschaftungsmodi, die ihrerseits Begriffswelten und Sprachpraxen als Referenzsysteme hervorbringen, in denen wiederum Werte und Werthaltungen ausgedrückt werden. Diese Werthaltungen sind wohl gemeint, wenn Dietrich Mühlberg vom Fortleben einer Gesellschaft spricht, die sich "in mehrere Generationen und Milieus mit unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungen gliedert. Zu diesem Fortleben gehört, dass die ostdeutsche Gesellschaft eine eigene Vergangenheit besitzt, über eigene Verlust- und Gewinnerfahrung verfügt, dass sie eine eigene Gegenwartsbefindlichkeit und eine eigene Zukunft innerhalb der deutschen ‚Großgesellschaft' hat." Und die, so ist zu ergänzen, eigene ethische Vorstellungen hat, die sich nicht in einem Streit um Gut und Böse erschöpfen.

Für die Auseinandersetzung zwischen Ost und West scheint mir wichtig, nicht länger von einer Debatte "unter Gleichen" auszugehen, auch wenn dieser Wunsch verständlich ist. Das dringende und auf die derzeitige gesellschaftliche Krisensituation heftig reagierende Bedürfnis, der Osten müsse endlich "normal" werden (und d.h. vor allem: ökonomisch prosperierend), hat von Seiten der Politik inzwischen einen Diskurs des Zusammenwachsens geprägt, der zunehmend von Wunschdenken gekennzeichnet ist. Nachdem aber deutlich geworden ist, dass die "alte" Bundesrepublik ebenso am Ende angelangt ist wie der Realsozialismus der "alten" DDR, scheint mir aufschlussreicher und realitätsnäher ein Ost-West-Dialog in Gestalt eines interkulturellen Kontaktes zu sein, in dem die Vielfalt der Lebensbezüge offengelegt und als solche bewahrt wird. Wenn man die Debatte als eine Konfrontation betrachtet, in der es um die über 40 Jahre geprägte Moralität einer Gemeinschaft geht, sollte man ihr schlussendlich vielleicht doch mehr abgewinnen können als lediglich eine (vordergründige) Bestätigung des eigenen Wertehorizontes.

Andererseits scheinen die Chancen hierfür derzeit schlechter zu stehen als je zuvor. Die Moralität einer Gesellschaft, die ihre systemische Verankerung verloren hat, kann zwar, wie sich am ostdeutschen Beispiel zeigt, bestehen bleiben, aber sie wirkt, je länger sie besteht, um so grundloser und schlichtweg illegitim. Wohl daher rührt es, dass mit der Empörung über die Missachtung der eigenen Lebensgeschichte und der mit ihr verbundenen Werte die Ironisierung dieser Vergangenheit einhergeht. Diese Ironisierung, die den populären Diskurs um die DDR-Vergangenheit, d.h. die sog. "Ostalgie", bestimmt, lässt sich in zweierlei Richtung interpretieren: Zum Einen kann sie ein Schamgefühl über die moralische Diskreditierung der Ostdeutschen verschleiern, ähnlich wie auch Lindner einen schwierigen Umgang mit der "beschämenden" Vergangenheit im Ruhrgebiet festgestellt hat. Zum Anderen kann Ironie auch als Versuch gesehen werden, das gebrochene Verhältnis zur eigenen Vergangenheit wiederzugeben. Sie hilft dabei, eine Vergangenheit anzuerkennen, die zentral für das eigene Selbstverständnis ist, die jedoch diskursiv durch und durch diskreditiert ist. So spielerisch die Reaktionen auf die neuen Zumutungen auch wirken mögen , sie sind in ostdeutschen Biographien Ausdruck für eine Identitätssuche, die vollkommen ernst gemeint und ernst zu nehmen ist.

Schließlich stehen der Wunsch und die Forderung nach Angleichung von Ost an West nicht für sich allein, sondern bestimmen die Dynamik und Utopien der gesamten deutschen Gesellschaft. Mit anderen Worten: Gesellschaftsform und -bild, denen Deutschland zustrebt, hängen maßgeblich von dem Zwang zur Selbstfindung ab, dem sich die gesellschaftlichen Führungskräfte (insbesondere die politischen Eliten) seit 1989/90 ausgesetzt sehen. Weil in dieser Bewegung nichts bleiben darf wie es ist (und war), sondern Staat, Ökonomie, Gesellschaft und Individuen neu erfunden werden müssen, wird, so steht zu erwarten, auch die Debatte um das Ethos der Gesellschaften in Ost- und Westdeutschland ausbleiben.