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 „Handeln“ ist ein alltagsweltlich wie wissenschaftlich viel gebrauchter, gehörter und theoretisierter Begriff. Handeln bedeutet etwas zu tun, aktiv zu sein, Effekte zu setzen und reduziert sich dabei nicht auf Formen des Handanlegens oder des körperlichen Einsatzes, sondern umfasst auch sprachliches Handeln. Handeln begegnet uns in Bedeutungszusammenhängen des Müssens, Sollens, Könnens, Gestaltens, Widerständig-Seins und in vielen mehr.

Mit dieser Ausgabe des kuckuck wollen wir aktuelle Perspektiven in der Europäischen Ethnologie_Kulturanthropologie auf Handeln zusammenführen. Mit der Frage, wie Menschen das tun was sie tun, war das Handeln stets im Fokus der Disziplin verankert. Was das Austheoretisieren des Handelns als Deutungsperspektive betrifft, scheint sich – so bemerkt Johanna Rolshoven in diesem Heft – die volkskundliche, europäisch-ethnologische, kulturanthropologische Wissenschaft eher zurückgehalten zu haben. In ihrem, diesen Band eröffnenden, Beitrag führt sie aus, wie in der volkskundlichen Kulturwissenschaft philosophische und sozialwissenschaftliche Handlungskonzepte rezipiert, angewendet und erweitert wurden. Eine gegenwärtige „postkoloniale, symmetrische, den Menschen dezentrierende Anthropologie“ schließlich interessiere sich für „Handlungsermöglichungen wie Handlungsbegrenzungen durch Kultur“ und entdeckt in einem gesellschaftlichen Umbruch, wie dem gegenwärtig durch die Corona-Pandemie ausgelösten, Potenziale „visionären Handelns an den Rändern“.

Silvy Chakkalakal und Sina Holst nehmen „Zeit-Handeln“ anhand der beiden Beispiele der „Naturalisierung der Zeitlichkeit“ in der Konzeption des cis-weiblichen Körpers als biologische Uhr und Erinnerungspraktiken des Staatlichen Museums Ausschwitz-Birkenau auf Twitter in den Blick. Aus den beiden Perspektiven einer anthropology of time sowie einer anthropology through time (Johannes Fabian) interessieren die beiden Autor*innen dabei Praktiken mit Zeit ebenso wie auch die Entstehung von Zeit im Handeln und die Netzwerke, die Zeitpraktiken hervorbringen. Chakkalakal und Holst beziehen in ihre Überlegungen zum „Zeit-Handeln“ andere als menschliche Akteur*innen, wie den Planeten, Technologien, Naturen und Materialitäten ein und fragen nach Formen und Möglichkeiten politischen Handelns von diesen Anderen im Anthropozän.

Der Geograf Mikko Äijälä stellt Fragen nach der agency tierlicher Gegenüber ins Zentrum seiner ethnografischen Forschung in Netzwerken aus Schlittenhunden, Mushern und Tourist*innen im finnischen Lappland. Die agency des Gespanns, so erläutert Äijälä, gestaltet sich dabei als relationale agency in aufeinander bezogenen Bewegungen der einzelnen Akteur*innen.

Lara Gruhn befasst sich mit Konsumhandlungen, die sich am Ethik-Konsum orientieren. Dabei betrachtet sie insbesondere die Prozesse der Aneignung und Umgewöhnung von Handlungen, die erst im Reden darüber zum ethischen Konsum werden.

Am Beispiel des Museumsraums zeigt Tabea Söregi auf, wie dieser durch Dinge mitkonstituiert wird. Absperrungen leiten Besucher*innen zu Kunstwerken oder halten sie auf Distanz und eröffnen damit auch Handlungsspielräume oder hindern daran, etwas Bestimmtes zu tun.

Der Beitrag von Jovan Džoli Ulićević und Čarna Brković thematisiert Transgender-Aktivismus in Montenegro und gibt Einblicke in ihren Austausch an der Schnittstelle von Aktivismus und Wissenschaft. Handeln wird dabei nicht nur inhaltlich in den Blick genommen, sondern auch mit der Wahl des Formats. In einem Interview und zwei Blogbeiträgen (wovon einer nur in der online-Version des Beitrages auf der kuckuck-Webseite zu lesen ist) werden Fragen von Gender, Sexualität, sozialem Wandel, von den Beziehungen zwischen der EU und dem Balkan, sowie zur Bedeutung von Liebe und Selbst und der Situation von Aktivist*innen in Montenegro aufgeworfen. Sarah Nimführ nimmt Wissenschaffende als Handelnde in den Blick. Sie zeigt anhand von fünf Möglichkeiten für kollaboratives ethnografisches Forschen oder Publizieren im Feld der Fluchtmigration auf, wie sich (Deutungs-)Macht zwischen Forscher*innen und Forschungspartner*innen verteilen lässt und marginalisierten Beforschten damit nicht nur Stimmen verliehen werden, sondern sie auch für sich selbst sprechen können.

Für die Handeln-Ausgabe erhielten wir viele Absagen in letzter Minute, die mit Überarbeitung und Zeitmanagementschwierigkeiten begründet wurden. Der kuckuck wurde von Elisabeth Katschnig-Fasch, einer Forscherin, die sich Zeit ihres wissenschaftlichen Lebens mit Prekarisierungen beschäftigt hat, mit dem Impetus gegründet, kritischen Stimmen Raum zu geben. Also möchten wir auch – besonders in Zeiten des Stresses durch erzwungene Entschleunigung – auf die Arbeitsbedingungen in wissenschaftlichen Feldern kritisch hinweisen und unsere eigenen Reihen dazu auffordern, neoliberale Bedingungen wissenschaftlichen Handelns im Blick zu behalten und dagegen auch aktiv zu werden – zu handeln sozusagen.

Wir glauben, dass Fragen des Handelns in der zu Beginn dieses Editorials eröffneten Bandbreite Konjunktur haben; Elisabeth Katschnig-Fasch hätte das wohl Zeitbefindlichkeit genannt. Zeitdiagnosen wie postfaschistisch, postdemokratisch, zunehmend rechtsnationale Regierungen und Klassifizierungen der Gegenwart als Anthropozän, Kapitalozän, etc. einerseits rufen Subjekte zum Handeln auf. Andererseits ist hier aber auch die anthropologische Kulturwissenschaft gefragt, sich diesen gesellschaftlichen Transformationen zuzuwenden, die menschliche (Vor-)Macht zu hinterfragen und die Frage, was der Mensch ist und was der Mensch macht, als machtpolitische Frage zu stellen: Welche Macht ist der Mensch?

Die vorliegende Zusammenführung aktueller Reflexionen über das Handeln in kulturwissenschaftlichen Kontexten wurde im Herbst 2018 thematisch fixiert, im Sommer 2019 auf den Weg gebracht und erscheint nun im Frühsommer 2020. In den letzten Monaten haben COVID-19 und die verschiedenen Aushandlungen mit seiner agency, wie Ausgangsbeschränkungen, Grenzschließungen, Arbeitsalltage in Home-Offices, rapide gestiegene Arbeitslosigkeit, Schließungen von Kinderbetreuungseinrichtungen und kleinen, individuellen Geschäftslokalen, menschliche Alltage weltweit erheblich durcheinandergewirbelt. COVID-19s agency sowie regierungspolitische und alltagskulturelle Transformationen als Reaktionen auf COVID, die zusammengefasst häufig als „Corona-Krise“ bezeichnet werden, deckten über Jahrhunderte angehäufte Schäden des Anthropozäns und Kapitalozäns auf und evozieren kritische Auseinandersetzungen mit neoliberalen, kapitalistischen Werten, sozialen Ungleichheiten und Anthropozentrismus. In einer Diskussion mit Rahel Jaeggi und Ulrike Herrmann über Corona als Naturkatastrophe und gesellschaftliche Krise (14.5. 2020, Kritische Theorie in Berlin), bezeichnet der Sozialwissenschaftler Alex Demirović die gegenwärtige Situation als „Krise im gesellschaftlichen Naturverhältnis“, die uns ins Bewusstsein rückt, wie sehr eine kontrolliert geglaubte „Natur“ gesellschaftliche Realitäten und menschliche Alltage bestimmt. Der Ausbruch von COVID-19 im Dezember 2019 wird zurückgeführt auf den Umgang mit und Verzehr des Fleisches von Schuppentieren, das auf einem wet-market in der chinesischen Stadt Wuhan zum Verkauf angeboten wurde. Die Primatologin und Naturforscherin Jane Goodall beispielsweise verortet die Entstehung des Virus in der Ausdehnung menschlicher Lebensräume, die zu einer Zurückdrängung und Verdichtung der Lebensräume anderer Lebewesen und fortschreitender Vernichtung der Artenvielfalt führen. Praktiken der Raumergreifung als Ausdehnung in Verbindung mit Zurückdrängung erzeugen Dynamiken menschlichen Handelns, die die Gegenwart zu einem Anthropozän beziehungsweise Kapitalozän machen. Der Motor hinter diesen Praktiken ist der Kapitalismus. Corona kann also als eine Krankheit des Kapitalismus bezeichnet werden, die zugleich offensichtlich macht, woran kapitalistische Gesellschaften kranken: an sozialen Ungleichheiten, einem fehlenden Sozialsystem (das alle auffängt, nicht nur Unternehmer*innen) und an privatisierten, profitorientierten Gesundheitssystemen, die in „Krisen“ nicht über ausreichend Kapazität verfügen.

„Wir“, als demokratische, in Nationalstaaten organisierte „Bevölkerung“, aber auch „wir“ als menschliche Handlungsmächtige arrangierten uns in den letzten Monaten mit Einschränkungen von jahrhundertelang erkämpften demokratischen Grundrechten. Fragen der Überwachung mobiler Daten werden nun auf den ganz großen Bühnen diskutiert und im Form von „Corona-Apps“ als Partner*innen zum Überleben angesprochen. Unter Hashtags wie #stayhomesafelives oder Slogans wie „Schau auf dich, schau auf mich“ wird mit gewissem peer-pressure zum solidarischen Rückzug ins Private aufgerufen. Gleichzeitig etablieren sich neue Formen einer Solidarität des Schützens der „Schwachen“ in Form von Nachbarschaftshilfen. Lauter wird aber auch der Protest gegen diese Maßnahmen, der sich in Corona-Zeiten seinen Raum in der Öffentlichkeit besonders erkämpfen muss. Eine im Badeschaum philosophierende Madonna, die suggeriert, dass Corona Gleichheit herstellen würde, weil es alle – ob arm oder reich – treffen würde/könne, hat schlichtweg – Konstruktivismus respektierend – Unrecht.

COVID-19 trifft nicht alle auf die gleiche Weise, ohnehin in prekarisierten Beschäftigungsverhältnissen Arbeitende werden zuerst gekündigt, Menschen ohne bürgerliches Eigenheim fehlt ein Rückzugsort um social distancing praktizieren zu können. Tätigkeiten in der Pflege und im Einzelhandel, die in der Corona-Krise zu den am stärksten geforderten zählen, sind mit sehr geringen Löhnen hohen körperlichen Gefahren ausgesetzt. Zudem sind es gerade diese Berufe, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden. Von Frauen wiederum, die in den letzten Monaten auch den überwiegenden Anteil der ins Eigenheim verlagerten Kinderbetreuung und Schulbildung übernahmen. Nature publizierte beispielsweise Untersuchungen, die nahelegen, dass während der Monate des Lockdown mehr Beiträge von männlichen Wissenschaftler*innen als von weiblichen eingereicht wurden.

Die Menschheit als den Planeten Erde bevölkernde Masse hat „Krisen“ wie Pest, Polio und Spanische Grippe überlebt, diese Menschheit wird auch Corona überleben. In der bereits zitierten Diskussion mit Rahel Jaeggi stellt die Wirtschaftsjournalistin Susanne Herrmann nicht nur fest, dass die kapitalistischen Systeme des globalen Nordens (die die Corona-Krise eigentlich verursacht haben, Anm.) diese Krise leichter meistern werden als andere wirtschaftliche Kontexte und Corona auch nicht das Ende des neoliberalen Kapitalismus herbeiführen wird. Als akteurszentrierte Wissenschaft fragt sich die Europäische Ethnologie_Kulturanthropologie hier aber besonders, wie der/die Einzelne Corona überleben wird. Wie wird sich die Arbeitslosigkeit auf das Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich auswirken? Welche Vorstellungen von sozialem Miteinander entwickeln Kinder, die in dieser Zeit dazu angehalten werden mussten, von anderen Menschen Abstand zu nehmen? Können die Ängste vor einer Ansteckung und das Misstrauen vor anderen (die das Virus potenziell in sich tragen) wieder abgelegt werden, wenn der Alltag mit all seinen Facetten wieder Fahrt aufnimmt?

Als Disziplin, die sich immer schon für menschliche Praktiken interessierte, kann (und sollte) die Europäische Ethnologie_ Kulturanthropologie in dieser Krise ihr Potenzial entfalten und sich breit aufgeworfenen Fragen nach einem „richtigen“ individuellen Handeln, einem „richtigen“ politischen Handeln (im Sinne von Hannah Arendts politischem Handeln als Handeln verstanden, das sich auf Andere bezieht), dem „richtigen“ regierungspolitischen Handeln und dem „richtigen“ (kultur-)wissenschaftlichen Handeln zuwenden. Daher ist Handeln 2020 auch die COVID-Edition des kuckuck, Handeln (in der „Krise“). Sie enthält neben den wissenschaftlichen Essays vier „COVID19-Tagebücher“ der Kulturanthropolog*innen Maximilian Jablonowski, Laura Bäumel, Lena Prehal, Sabrina Stranzl, Ruth Dorothea Eggel und Barbara Frischling, die aus unterschiedlichen Perspektiven über Handeln und Handlungsmacht im COVID-Frühjahr reflektieren.

Der Kunstbeitrag von Eva Brede (kunstraum_8020) zeigt in dieser Zeit fast nostalgisch erscheinende Bilder rund um Bus-Reisen und verweist damit auf beinahe exotische Weise auf die Selbstverständlichkeiten der mobilen Freiheiten „vor“ den Frühjahrsmonaten 2020 und gleichzeitig auf die im Juni 2020 wiederbeginnende Mobilität. Dieser Kunstbeitrag setzt sich nun einerseits aus Bildern zusammen, die in der Ausstellung „Fernbusse ganz nah. Im Gepäck: Frankfurt/ Main, Berlin, Graz und Wien“ im August und September 2019 in dem von Brede initiierten „kunstraum_8020“ in ihrer zur Hälfte in einen Ausstellungsraum transformierten Mietwohnung gezeigt wurden, andererseits aber auch aus Bildern der Eröffnung dieser Ausstellung. Als Ausgangspunkt der Ausstellung nennt die Künstlerin den unter ihrer Wohnung liegenden Busparkplatz eines Tourismusbetriebes im Grazer Bezirk Gries sowie ihre Beobachtungen während Flixbusfahrten zu Freund*innen nach Wien, Berlin oder Frankfurt/Main. Der Beitrag wurde im Sommer 2019 eingereicht, als Busfahren noch zu den Alltagsbanalitäten gehörte und zeigt, wie der Blick auf die Welt vom jeweiligen situativen Kontext abhängig ist und sich mit ihm transformiert.

Schließlich hoffen wir, mit dieser Ausgabe ein Stück Zeitbefindlichkeit eingefangen zu haben und wünschen unseren Leser*innen eine anregende Lektüre im Sommer 2020.

 

Anmerkungen

1.   Vgl.: [https://www.greenmatters.com/p/ja-ne-goodall-coronavirus-animals-environ-ment]. Zugriff zuletzt 15. 06. 2020.

2.   Vgl.: [https://www.nature.com/articles/ d41586-020-01294-9] Zugriff zuletzt 15. 6. 2020.