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Cover der unten-oben?ausgabe

Jens Wietschorke
Gutes Benehmen - oder: Der Teufel steckt im Detail.
Kulturanalytische Randnotizen zu einer Talksendung vor 25 Jahren


„Menschen ins Studio holen, die verschiedener nicht sein können und einfach abwarten, was passiert.“1 So beschreibt die Homepage von Radio Bremen das Konzept der Talksendung „3 nach 9“, die seit November 1974 jeden Freitagabend zu sehen und damit die „dienstälteste“ Gesprächsrunde des deutschen Fernsehens ist. Am 19. Februar 1982 wurde dieses Konzept wieder einmal glänzend umgesetzt, als Bundesfinanzminister Hans Matthöfer und Ex-Kommunarde Fritz Teufel unter Leitung der Moderatoren Marianne Koch und Wolfgang Menge mit einer kleinen Runde aus Psychologen, Tanzlehrern und dem Schlagersänger Abi Ofarim zum Thema „Gutes Benehmen“ diskutierten.2 Im Verlauf dieses Gesprächs und in den Szenen, zu denen es damals kam, wurde ein interessantes Wechselspiel symbolischer Markierungen von „oben“ und „unten“ sichtbar; im Folgenden möchte ich diesem Wechselspiel ein wenig nachgehen und mich an einer kulturanalytischen Interpretation versuchen.

„Als ich gefragt worden bin, ob ich über ‚feines Benehmen’ ooch was sagen will, hab ich mir ja Gedanken dazu gemacht. Und ich komm aber nicht … ich krieg keinen Anknüpfungspunkt. Es geht mir hier so wie im Gericht das manchmal ging, die reden ne andere Sprache […], die Tanzlehrersprache. Und die Probleme sind auch nicht so sehr die meinen, zum Beispiel, wie man Flaschen aufmacht.“3

Von Beginn der Sendung an ließ sich Fritz Teufel, Puddingattentäter von 1967 und notorischer „Spaß-Revoluzzer“ der ehemaligen Kommune 1,4 nicht so recht auf die Debatte der Tanz- und Benimmlehrer über „feines Benehmen“ ein; vielmehr präsentierte er eine ganz eigene Version zum Thema:
„Nach meiner Weltanschauung ist feines Benehmen einerseits Zärtlichkeit. Und das gilt aber vielleicht nur bei Leuten, die Widerstand leisten, weil das einfach notwendig ist, weil man sonst … wer sich anpasst, der kann eigentlich nicht zärtlich sein, das ist meine Erfahrung. Die andere Geschichte ist aber die, dass feines Benehmen im Widerstand notwendig unkonventionell und kriminell ist. Zum Beispiel, er [Teufel deutet auf Matthöfer] möchte allen Leuten die Hände schütteln, ich möchte einmal`n Bundesminister nassmachen.“

Daraufhin zog Teufel - die Szene ist berühmt geworden - eine mit Zaubertinte gefüllte Wasserpistole aus dem Jackett und bespritzte damit Hemd und Anzug Matthöfers. Nachdem der Minister exakt zwanzig Sekunden lang mit versteinerter Miene dagesessen hatte, griff er zu seinem Weinglas und schüttete dessen Inhalt mit gemessenem Schwung gegen Teufel. Heftiger Beifall im Publikum - in einer Nahaufnahme sind zwei Zuschauer im Studio zu sehen, die, offensichtlich empört von der Zaubertintenattacke, die Gegenaktion Matthöfers mit geradezu verbissener Begeisterung beklatschen.5

Die Reaktion der Benimmexperten fiel allerdings etwas anders aus. Unmittelbar nach dem feuchten Schlagabtausch meldete sich der Tanzlehrer Hinrich Wulff zu Wort:

„Meine Damen und Herren, selbst unter dem … unter der Gefahr, dass ich hier falsch verstanden werde, muss ich sagen, ich fand es nicht so gut, ich fand es nämlich darum nicht so gut, weil Herr Teufel hier ne Wasserpistole benutzte, die keine Flecken gibt und Rotwein gibt Flecken. Ich fand das also darum nicht gut.“
Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde Hans Matthöfer vor allem vorgeworfen, er habe sich provozieren lassen - was vom Standpunkt des feinen Benehmens aus zu verurteilen sei. Und an diesem Punkt setzte im übrigen auch Fritz Teufel an, als er sich darüber erfreut zeigte, „den Mann aus der Reserve gelockt“ zu haben, „der für Hochsicherheitstrakte und derartige Geschichten mitverantwortlich ist“. Zunächst entschuldigte sich Matthöfer mit dem Hinweis, er habe nicht gewusst, dass es sich nur um Zaubertinte handelte und sei daher bei seiner Reaktion davon ausgegangen, dass sein Hemd und Anzug „chemisch verschmutzt“ worden seien. Einige Zeit später setzte sich Matthöfer allerdings mit einer Bemerkung zur Wehr, die die symbolischen Markierungen des Gesprächs entscheidend verschob und mit der er weite Teile des Publikums endgültig auf seine Seite brachte:

„Ich bin ein Arbeiterjunge. Ich lass mir so was nicht gefallen.“6

Szenenapplaus. Was war passiert? Weshalb gab das Publikum nun nicht mehr dem Tanzlehrer recht, der gefordert hatte, ein gestandener Minister dürfe sich nicht zu einer solchen offenen Gegenattacke hinreißen lassen? Welche Werte wurden hier gegeneinander ausgespielt? Welche sozialen und symbolischen Markierungen waren hier im Spiel?

Zunächst einmal ist die Konstellation dieser „3 nach 9“-Sendung deshalb so interessant, weil sich ausgerechnet vor dem Hintergrund des Diskussionsthemas „gutes Benehmen“ zwei Teilnehmer der Runde über die Regeln guten Benehmens hinwegsetzten. Allerdings taten sie es aus zwei verschiedenen Gründen. Mit seiner Fundamentalkritik an der Tanzlehrerdebatte um das richtige Öffnen von Weinflaschen und der anschließenden Zaubertintenattacke führte Teufel sein Spaßguerilla-Konzept „unkonventionellen“ Widerstandshandelns vor. Teufel versuchte, gegenüber den von den Tanzlehrern vertretenen kulturellen Konventionen der haute-volée die Position derer zu vertreten, denen die „Tanzlehrersprache“ als lächerlich und vor allem als Spiegelbild gesellschaftlicher Ausbeutungsverhältnisse erschien. Vor allem aber galt sein Angriff dem Minister als dem Repräsentanten der Staatsgewalt. Als nämlich der Tanzlehrer Wulff scherzhaft darum bat, ebenfalls von Teufel nassgespritzt zu werden („aber dann gleiches Recht für alle! Ich möchte auch! Ich möchte auch!“), zeigte dieser nur schwaches Interesse („Ich möchte lieber ihn erst“). Der Bundesminister hingegen gab seine Entgleisung als klassenspezifischen Eigensinn aus, der implizit schon immer gegen die bürgerlichen Zumutungen gerichtet war. Damit hatte er sofort die „Werte der Straße“ auf seiner Seite: Schlagfertigkeit, Direktheit, Ehrlichkeit, Klassenstolz. Die Begründung Teufels - „Ich möchte mal’n Bundesminister nassmachen“ - und die Begründung Matthöfers - „Ich bin ein Arbeiterjunge. Ich lass mir so was nicht gefallen“ - versuchten also beide, ein spezifisches „Unten“ zu artikulieren: Teufel mit seinem demonstrativen Widerstand gegen politische Hierarchien, Matthöfer mit seinem geschickt in Stellung gebrachten Verweis auf einen „proletarischen“ Klassen-
habitus.7

Dieser Kampf um symbolische Platzierungen ging eindeutig aus. Denn durch Matthöfers Reaktion und dem Rekurs auf seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu erschienen die Benimm- und Tanzlehrer noch mehr als Vertreter einer steifen und lebensfernen Etikette; Fritz Teufel hingegen erschien nun plötzlich nicht mehr als der politische und soziale „underdog“, sondern - als hätte Matthöfer einen Schalter umgelegt - als ungezogenes Bürgerkind und rüpelhafter Student.8 Damit aber hatte Matthöfer es geschafft, seinen in der Runde versammelten Talk-Kollegen zwei spezifische Positionen des „Oben“ zuzuweisen - und zwar, um mit Bourdieus Schema der sozialen Positionen und Lebensstile zu sprechen, „oben rechts“ zwischen Reiten und Champagner (den Tanzlehrern) und „oben links“ zwischen Brecht und Flohmarkt (Fritz Teufel).9 Bei relevanten Teilen des Publikums scheint genau diese demonstrative Abgrenzung auf Anerkennung gestoßen zu sein: Denn dadurch wurde der Finanzminister plötzlich „einer von ihnen“: Vertreter der „einfachen Leute“ und ehrlicher Arbeiterjunge, der eben „nicht heraus kann aus seiner Haut“ und der auf elitäre Selbstinszenierungen impulsiv reagiert - sei es auf den impertinenten Weltverbesserungsdünkel wildgewordener Akademiker, sei es auf den Geltungsdünkel einer sich über allzu feine Unterschiede kulturell reproduzierenden Oberschicht. Matthöfer, der in dieser Hinsicht ganz sicher auf spezifische Erfahrungen aus seiner Zeit in der IG Metall-Bildungsarbeit zurückgreifen konnte, hatte also strategisch genau richtig gehandelt. Aus der Gegenüberstellung Minister versus Ex-Kommunarde („oben-unten“) hatte er eine Gegenüberstellung „Arbeiterjunge“ versus „abgehobener Akademiker“ („unten-oben“) gemacht - und dadurch die Zustimmung des Publikums gewonnen.10 Inwiefern seine Reaktion eine Art kalkuliertes Rollenspiel war, muss hier unentschieden bleiben.11 An dieser Stelle kommt es auf den bewussten oder unbewussten Rückgriff auf ein bestimmtes Habitusmodell an, das sich im Studio als mehrheitsfähig erwiesen hat und durch das Matthöfer eindeutig punkten konnte. Und genau das bedeutet „Habitus“ als Wahlverwandtschaft kultureller Ausdrucksformen: Darin steckt eben nicht nur die Verwandtschaft (durch Herkunft und Sozialisation), sondern auch die bewusste Wahl, das strategische Abrufen habitueller Muster, die in bestimmten Situationen Anerkennung sichern.

So verstanden, verrät die Episode etwas über die symbolischen Anerkennungsstrukturen des „Einfachen“ gegenüber dem „Raffinierten“, des „Bodenständigen“ gegenüber dem „Abgehobenen“.12 Sie zeigt auch, dass solche Gegenüberstellungen und Zuordnungen nicht einfach offenliegen, sondern dass sie vielmehr als - mehr oder minder plausible - Möglichkeiten vorhanden sind, die dann in der Praxis aktualisiert werden müssen. Damit verdeutlicht die Szene im kleinsten denkbaren Rahmen, was eigentlich schon eine Binsenweisheit der Kulturanalyse ist (eine Binsenweisheit allerdings, die nicht oft genug wiederholt werden kann): „dass es […] bei ‚Kultur’ nicht um ein System von Identitäten geht, sondern um ein Ensemble von Differenzen“.13 Handlungen gewinnen ihre Bedeutung aus der jeweils spezifischen Konstellation, der spezifischen Wechselwirkung von Differenzen und Distinktionen, die im Spiel sind. Deshalb geht es um die Analyse von „Magnetfelder[n], in denen es zu charakteristischen Anziehungs- und Abstoßungsprozessen kommt, die den ‚Teilchen’ […] ihren ‚Platz’ zuweisen“.14 Im vorliegenden Beispiel stellte das Thema „Benimm“ ein solches Magnetfeld dar, in dem sich die „Teilchen“ - in diesem Falle Matthöfer, Teufel, die Tanzlehrer und das (in sich freilich heterogene) Studiopublikum - gegenseitig abgestoßen und angezogen haben. Dieses Magnetfeld hat in der Tat einige kulturelle Aspekte sozialer Differenz sichtbar gemacht, und in diesem Sinne hat das eingangs genannte Prinzip der Sendung, nämlich Unterschiede in Aktion vorzuführen, hervorragend funktioniert.

Anmerkungen

1    www.radiobremen.de/tv/3nach9jubilaeum /30jahre_best_of.html. Zugriff am 24. Mai 2007.

2    Vgl. zu diesem Thema auch die schöne Studie von Elisabeth Timm, Ausgrenzung mit Stil. Über den heutigen Umgang mit Benimmregeln, Münster 2001.

   Auf www.youtube.com ist ein zehnminütiger Ausschnitt aus der Sendung zu sehen. Dieser Ausschnitt enthält im Wesentlichen die hier behandelten Szenen.

4    Zu Fritz Teufel vgl. die Biografie: Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg 2003.

   Die bei Carini wiedergegebene Nacherzählung des Studiopianisten Gottfried Böttger ist in mehrfacher Hinsicht sehr ungenau: Weder trug Matthöfer während der Sendung einen Frack mit weißer Fliege, noch empörte sich Teufel lautstark über die Rotweinattacke. Vgl. Carini, Fritz Teufel, 236. Interessant ist allerdings die Information, dass sich in dem Moment, als Teufel seine Spritzpistole zog, hinter den Kulissen eine Spezialeinheit der Polizei in Stellung brachte.

6    Dieser Satz ist in dem genannten YouTube-Ausschnitt nicht mehr enthalten. Ich zitiere nach meiner Erinnerung an die Wiederholung der Sendung im NDR am 23. Februar 2007.

7    Bezeichnend dafür ist auch der Titel seiner 2006 erschienenen Autobiografie: Hans Matthöfer, Aus dem Kohlenpott in den Bundestag. Meine Jahre von 1925 bis 1961, Kronberg im Taunus 2006. Für Oktober 2007 ist übrigens eine umfangreiche Matthöfer-Biografie des Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser angekündigt: Hans Matthöfer. Gewerkschafter, Politiker, Unternehmer, Bonn 2007.

8    Dabei spielt die tatsächliche soziale Herkunft Teufels eigentlich schon keine Rolle
mehr; in der Biografie von Marco Carini ist nachzulesen, dass Fritz Teufel aber tatsächlich aus einem relativ gutsituierten Haus stammt. Sein Vater Alfred war bis in die letzten Kriegsjahre hinein leitender Angestellter des Chemiekonzerns Boehringer-Ingelheim, später selbstständiger Steuerberater in Ludwigsburg. Vgl. Carini, Fritz Teufel, 9-15.

9    Vgl. das Schema in: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982, 212-213.

10    Möglicherweise müsste man diese Strategie als linken Populismus bezeichnen, vgl. zum Populismusbegriff Margret Canovan, Populism, London 1981, v.a. 285f. und Sebastian Reinfeldt, Nicht-wir und Die-da. Studien zum rechten Populismus, Wien 2000, v.a. 46-77.

11    Oder zeigte sich Matthöfer hier tatsächlich als ein waschechter „marginal man”, der - als zum politischen Funktionär und Minister aufgestiegener Arbeitersohn gewissermaßen in zwei sozialen Welten zu Hause - in beide Rollen schlüpfen kann, je nachdem, wie es die Situation erfordert? Ist es womöglich genau diese Fähigkeit, die den Gewerkschaftsfunktionär auszeichnet, der schon von Berufs wegen eine gewisse persönliche Nähe zum klassenbewussten Parteivolk verkörpern muss?

12    Der in der Sendung etwas unglücklich agierende Abi Ofarim zeigte eine andere Reaktion auf die seitens der Tanzlehrerschaft an ihn herangetragenen Verhaltensansprüche. Diese wurden in der Sendung von Hinrich Wulff angemeldet: „Herr Ofarim, man legt nie den Ellbogen auf den Tisch!“. Zum einen sagt diese in fast schon triumphierendem Tonfall vorgebrachte Zurechtweisung einiges über die normative Verhaltenslehre der Benimmexperten aus. Zum anderen aber dokumentiert die Reaktion Ofarims eine neue Variante, mit dem Thema „Benimm“ umzugehen: Er verteidigt sich nämlich unter Berufung auf erlernte Standards - und damit ganz im Sinne der Tanzlehrerlogik: „Ich esse aber im Moment gar nicht. Das habe ich gelernt: beim Essen!“.

13    Michael Frank, zit. nach Rolf Lindner, Vom Wesen der Kulturanalyse, in: Zeitschrift für Volkskunde, 99. Jg. 2003/II, 177-190, hier 180.

14    Lindner, Vom Wesen der Kulturanalyse, 181.