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Cover der Gleichheitsausgabe

Yuca Meubrink

Hitting the Jackpot
Die New Yorker Wohnungslotterie als Erfüllung des Amerikanischen Traums?

„Brooklyn’s newest affordable rentals: Lottery open now“ – steht in Großbuchstaben auf dem Flyer, der bei der Sitzung der lokalen Bürgervertretung in Bedford Stuyvesant (Brooklyn) an das Publikum verteilt wird und der dazu auffordern soll, sich bei der angekündigten Wohnungslotterie zu bewerben. 181 ‚bezahlbare’ Neubauwohnungen der insgesamt 363 Wohnungen in der Dean Street 461 werden durch eine Lotterie per Zufallsprinzip an die Bewerber_innen verteilt. Die tendenziell eher einkommensschwächeren Anwohner_innen des von Gentrifizierungsprozessen geprägten Viertels werden innerhalb der Lotterie bevorzugt berücksichtigt, wie die Direktorin der Wohnungsgesellschaft, die diese Wohnungen managt und für die Durchführung der Wohnungslotterie zuständig ist, erklärt und sogleich alle Interessierten auffordert, zu einer Informationsveranstaltung ein paar Wochen später zu kommen.[1]

In vielen größeren Städten in den USA, so z.B. in Boston, Chicago, San Francisco und eben auch in New York ist es inzwischen Gang und Gäbe ‚erschwingliche’ Wohnungen über ein Lotterieverfahren zu vergeben. In einer Stadt wie New York, die sich mitten in einer Wohnungskrise befindet und mit derzeit über 60.000 auf der Straße lebenden Menschen die höchsten Obdachlosenzahlen seit der Großen Depression aufweist[2], wird für viele die Wohnungssuche zum Albtraum. Der derzeitige Bürgermeister von New York Bill de Blasio legte aus diesem Grund einen ambitionierten Wohnungsplan vor, mit dem er unter anderem 80.000 ‚bezahlbare’ Wohnungen bis 2023 bauen lassen will. Eine der Säulen des Plans ist, dass Bauunternehmen höher und dichter bauen dürfen, wenn sie zwanzig oder dreißig Prozent an ‚erschwinglichem’ Wohnraum in ihre Neubau-Wohnhäuser integrieren.

Die vorangestellten sowie folgenden Beobachtungen entstanden im Zusammenhang meiner Feldforschungen in New York in den Jahren 2016 und 2017, in denen es vordergründig darum ging, dieses wohnungspolitische Programm des ‚In-die-Pflicht-Nehmen‘ von Bauunternehmen genauer zu untersuchen. Ziel war es sowohl die alltäglichen Aushandlungen und Machtkonstellationen während der Planungsphase als auch die Alltagserfahrungen der Bewohner_innen und Nachbarschaft mit ethnografischen Forschungsmethoden in den Blick zu nehmen. Die Vergabe dieser ‚erschwinglichen’ Neubauwohnungen geschieht über eine Wohnungslotterie. Die im Folgenden aufgezeigte Komplexität und Widersprüchlichkeit dieses Vergabeprinzips bildet demnach nur ein Ausschnitt meiner mehrjährigen Forschung ab. Gleichzeitig zeigt gerade dieser Ausschnitt die komplexen Herausforderungen, vor denen eine Stadt steht, die zwischen den Ansprüchen des Marktes und den Interessen seiner Bewohner_innen zu lavieren versucht.

 

Zur Komplexität der New Yorker Wohnungslotterie

„Es funktioniert ein wenig wie ein herumrollender Ball“[3],[4], sagte die bereits zitierte Direktorin der Wohnungsgesellschaft im Interview als Antwort auf meine Frage, wie ich mir die Wohnungslotterie genau vorstellen kann. Das Interview fand in ihrem kleinen Büro im 11. Stock eines 23-stöckigen Bürogebäudes in Downtown Brooklyn statt. Während ich in einem kleinen Vorzimmer darauf wartete, dass sie mich empfing, stellte ich mir vor, wie es wäre, hier zu sitzen und auf das Interview zu warten, das man durchlaufen muss, wenn man die Wohnungslotterie ‚gewonnen’ hat: Wie muss es wohl sein, hier voller Hoffnung auf eine bessere und möglicherweise bezahlbare Wohnung zu sitzen und gleichzeitig voller Angst, dass man das Interview doch noch irgendwie verpatzen könnte? Ein paar Minuten später führte mich eine freundliche junge Assistentin in das Büro der Direktorin, die hinter Stapeln von Papieren kaum zu sehen war. Wie ich im Verlauf des Interviews erfuhr, waren dies alles Anträge von Leuten, deren Nummern in der Wohnungslotterie für die Dean Street 461 gezogen worden waren.

Die Direktorin erklärte mir, dass seitdem die Bewerbungen für die Wohnungslotterie im Jahr 2012 auch online ausgefüllt und eingereicht werden können, die Bewerbungen deutlich gestiegen sind. Als einer der Hauptgründe hierfür nannte sie die Tatsache, dass, sobald ein Konto erstellt und eine einzige Online-Bewerbung ausgefüllt wurde, es ziemlich einfach ist, sich erneut für andere Wohnungslotterien zu bewerben. Es erfordert buchstäblich nur einen Klick. Trotzdem ist die Direktorin der Ansicht, dass die Vermarktung der Wohnungen immer noch sehr wichtig ist. Während die Stadt einige grundlegende verbindliche Kriterien für die stadtweite Zirkulation der Informationen über die entsprechende Wohnungslotterie festlegt, ist die Direktorin bemüht, mehr zu tun. So besucht sie Gemeindeversammlungen, Schulen und Kirchen, um sicherzustellen, dass die Nachbarschaft von dem Vorzug weiß, den sie oft innerhalb der Lotterie haben. Aber es ist ein „zweischneidiges Schwert“, räumte sie ein, da „einerseits, je mehr man informiert, desto mehr Menschen sich bewerben, aber wir andererseits versuchen, den Fokus auf die lokale Nachbarschaft zu legen, um die sozioökonomische und ethnische Vielfalt zu erhalten beziehungsweise zu erhöhen.“[5]

Bei der angesprochenen Informationsveranstaltung war der Saal voll. Das fast ausnahmslos schwarz-amerikanische Publikum spiegelte einen Großteil der Bevölkerung von Bedford Stuyvesant wider. Historisch gesehen war das bis heute von Armut geprägte Viertel Bedford Stuyvesant ein kulturelles Zentrum der Afroamerikaner_innen in Brooklyn. Ähnlich wie seine Nachbarbezirke Bushwick im Osten, Fort Greene im Westen und Crown Heights im Süden, ist es jedoch zunehmend Gentrifizierungsprozessen ausgesetzt, die sich insbesondere in der Verdrängung von Afroamerikaner_innen zeigt. Dennoch ist Bedford Stuyvesant laut einer Studie des New Yorker Gesundheitsministeriums von 2015 weiterhin eine überwiegend schwarz-afrikanische Gemeinde. Des Weiteren leben laut dieser Studie rund 33 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze, dies sind rund ein Drittel mehr als in New York gesamt gesehen; die Arbeitslosenquote beträgt 17 Prozent; die Zahl der Inhaftierungen ist mehr als doppelt so hoch wie im Gesamtbereich New York und die Mietbelastung liegt bei rund 55 Prozent des Monatseinkommens.[6]

Neubauten wie das 32-stöckige Hochhaus in der Dean Street locken größtenteils einkommensstärkere Familien in die Gegend, die zur Aufwertung des Viertels, aber auch zur zunehmenden Verdrängung der ansässigen Bevölkerung beitragen. Die Infoveranstaltung zur Wohnungslotterie in den entsprechenden Nachbarschaften soll die ansässige Bevölkerung anregen, sich auf die neuen ‚erschwinglichen‘ Wohnungen zu bewerben. Die Direktorin pries dem vollen Saal die Wohnungen daher in einer PowerPoint-Präsentation als „schöne Apartments mit fantastischem Ausblick, Parkett und herrlichen Innenhöfen“[7] an.

Die Miete für die Apartments ist einkommensabhängig und wird in Einkommensstufen unterteilt, das bedeutet, dass zum Beispiel bei einem Jahreseinkommen zwischen $20.675 und $25.400 die monatliche Miete für ein Studio (d.h. Wohn- und Küchenbereich in einem Raum) $559 beträgt. Bei einem Jahreseinkommen von bis zu $101.600 beträgt die Miete für ein gleichartiges Studio $1.996. Einkommensstärkere Haushalte subventionieren auf diese Art einkommensschwächere Haushalte mit. Gleichzeitig sollen die einzuhaltenden einheitlichen Designvorgaben gleiche Wohnqualitäten für alle Bewohner_innen und somit soziale Durchmischung möglich machen. Diesem Prinzip der ‚Gleichheit’ von Wohnqualitäten und dem damit verbundenen Ziel der sozialen Durchmischung folgend drängt sich jedoch auch die Frage nach der Zusammensetzung der Bewohnerschaft auf, d.h. wer durchläuft dieses Lotterieverfahren erfolgreich und kann am Ende in eine der Neubauwohnungen einziehen und inwiefern wird mit dem Vergabeverfahren der Wohnungen per Zufallsprinzip das damit einhergehende Ideal der Chancengleichheit eingehalten.

Als die Direktorin die verschiedenen Einkommensgruppen von $20.675 (für ein Studio, d.h. Wohn- und Küchenbereich in einem Raum) bis $144.960 (für eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern) erklärte, begannen die Teilnehmer_innen der Infoveranstaltung direkt Fragen zu stellen. Die Fragen der Anwesenden variierten von strukturellen Problemen wie (1) Anzahl der Wohnräume, (2) Erschwinglichkeit, (3) Einkommensstufen zwischen den festgelegten Haushaltseinkommen bis zu (4) individuellen Problemen bezüglich der Schwierigkeit, die erforderlichen Dokumente zusammenzubringen.

Eine der ersten Fragen bezog sich auf die Anzahl der Schlafzimmer: „Heißt das, dass eine Familie, die mehr als vier Mitglieder umfasst, sich nicht bewerben kann“, fragte eine Frau aus dem Publikum. „Ja, das stimmt“[8], gab die Direktorin zu, während sie gleichzeitig diesen Familien riet, auf die nächste Wohnungslotterie zu warten, die bald in der Carlton Avenue 535 öffnen würde. Dort würden Dreiraumwohnungen zur Verfügung stehen. Tatsächlich verfügte der Neubau in der Charlton Avenue über Dreiraumwohnungen – 15 von 297 Wohnungen, um genau zu sein, was ungefähr fünf Prozent ausmacht. Aber nur eine dieser 15 Drei-Zimmer-Wohnungen war in der niedrigsten Einkommensgruppe, das heißt für Haushalte mit bis zu sechs Personen mit einem Jahreseinkommen zwischen $29.863 und $42.040, während es sieben Drei-Zimmer-Wohnungen in der höchsten Einkommensklasse für Haushalte zwischen $129.258 und $173.415 jährlich gab.

 

 Meubrink Abbildung 1

Meurbink Abbildung 2

Abb.1 Ausschnitte aus dem Flyer für die Wohnungslotterie der Dean Street 461

 

Da es größtenteils nur Vorgaben bezüglich der Anzahl, nicht aber der Größe oder Erschwinglichkeit der zu integrierenden ‚bezahlbaren’ Wohnungen gibt, ist es für Bauunternehmen rentabler vornehmlich Studios und Ein-Zimmer-Wohnungen in den höheren Einkommensstufen anstelle von Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnungen zu bauen. Im Fall der Dean Street 461 ist beispielsweise auffällig, dass rund achtzig Prozent der Wohnungen Studios und Ein-Zimmer-Wohnungen und nur sechs Prozent der Wohnungen in der untersten Einkommensstufe sind (siehe Abb.1). Statistiken diesbezüglich zeigen auch, dass „Wohnungslotterien junge Singles bevorzugen“[9]. Laut eines Artikels der Online-Zeitung DNAinfo waren rund die Hälfte der Menschen, die zwischen 2013 und 2015 in der Wohnungslotterie gezogen wurden und schließlich eine ‚erschwingliche’ Wohnung bekamen, zwischen 25 und 34 Jahre alt und die Hälfte von ihnen waren Singles, nur vier Prozent waren über 62 Jahre alt.[10]

Weitere brennende Fragen des Publikums berührten das Thema der Einkommensstufen. So werden Bewerber_innen bei der Bewerbung in bestimmte Einkommensstufen eingeteilt (siehe Abb.1), wobei vor allem die Lücken zwischen den Einkommensstufen bei den Teilnehmer_innen der Infoveranstaltung für Aufregung sorgten, da sie unter Umständen einen Faktor darstellen, der die Menschen von der Lotterie ausschließt. Die Einkommensstufen variieren von Gebäude zu Gebäude, weswegen es ein erklärtes Ziel der Direktorin ist, die Lücken zwischen diesen Einkommensstufen zu minimieren, die von den Bauunternehmen in Übereinstimmung mit der Stadt festgelegt werden. Im Fall der Dean Street gab es dennoch Lücken von bis zu $19.000 zwischen zwei Einkommensstufen. Auffallend dabei ist, dass sich die Einkommensstufen in den höheren Einkommensbereichen tendenziell überlappen, was bedeutet, dass es keine Lücke gibt. Dies führt dazu, dass strukturell mehr einkommensschwächere als einkommensstarke Haushalte von der Lotterie per se ausgeschlossen sind. Als die Teilnehmer_innen bemerkten, dass sie, wenn sie in diese Lücken fallen, überhaupt nicht in Frage kommen, standen einige Leute auf und verließen den Raum, offensichtlich wütend oder enttäuscht (siehe Abb.1).

Das Thema, das die Stimmung der Menschen am meisten erhitzte, war jedoch das Zusammentragen der Dokumente, sobald sie in der Wohnungslotterie ausgewählt wurden. Während die Direktorin noch die Liste der Dokumente verlas, die man für das Interview zur Hand haben sollte, hoben die Teilnehmer_innen bereits ihre Arme für Fragen. So müssen Bewerber_innen mehrere Dokumente ihres/r Arbeitgeber_in, ihrer Bank und ihres/r Vermieter_in einreichen, um damit ihre monatlichen Gehälter, ihre Mieterakten sowie ihre Kreditwürdigkeit offenzulegen. Insbesondere zur finanziellen Lage oder zum Vorstrafenregister traten Fragen auf, da Antragsteller_innen abgelehnt werden können, wenn sie Schuldverpflichtungen (einschließlich Miete oder Kreditkartenzahlungen) haben oder eben vorbestraft sind. Bauunternehmen ist es des Weiteren möglich, Antragsteller_innen auch allein aufgrund einer geringen Kreditwürdigkeit abzulehnen, da dies als Indikator für finanzielle Instabilität angesehen werden kann. Wenn ein/e Antragsteller_in sich in einem Gerichtsverfahren mit beispielsweise seinem/r bzw. ihrem/r Vermieter_in befindet, was in New York nicht unwahrscheinlich ist, erhält er oder sie ebenfalls ein Ablehnungsschreiben. Die Direktorin der Wohnungsgesellschaft wies ferner darauf hin, dass einige der Dokumente – wie beispielsweise eine Geburtsurkunde – für diejenigen, die außerhalb der USA geboren wurden und/oder eine solche nicht besitzen, schwierig zusammenzubringen sein könnten und empfahl Betroffenen, sich so schnell wie möglich mit solchen Formalitäten zu befassen.

 

Den Amerikanischen Traum mieten

Als das New Yorker Stadtratsmitglied Robert E. Cornegy, der Teile der Brooklyner Bezirke Bedford Stuyvesant und Crown Heights repräsentiert, den Raum der Infoveranstaltung betrat, um zu seinem Wahlkreis zu sprechen, nahm er die Rhetorik der Direktorin auf. In einem fast predigthaften Ton sagte er zum Publikum: „Sie müssen dranbleiben, es ist ein langer Prozess, sie müssen sich auf das Ziel konzentrieren. Das ist der amerikanische Traum.“[11]

Indem er das ‚Gewinnen‘ der Wohnungslotterie als die Erfüllung des amerikanischen Traums verstand, berief er sich auf ein amerikanisches Ideal, welches als ein Schlüsselaspekt der amerikanischen Kultur gilt. Der amerikanische Traum ist ein nationales Ethos, das seinen Ursprung in der Gründung der Nation und der Mystifizierung des Lebens an der Siedlungsgrenze (engl. frontier) hat, wo für alle, unabhängig von sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden, die Chance auf Wohlstand und individuellen Erfolg gegeben sein soll. Ähnlich wie die Unabhängigkeitserklärung (1776), die besagt, dass „alle Menschen gleich erschaffen worden“ sind und das „unveräußerliche Recht auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glückseligkeit“ haben, beinhaltet auch der amerikanische Traum dieses optimistische Versprechen auf Chancengleichheit, das heißt, dass jeder und jede mit harter Arbeit und Entschlossenheit Erfolg haben kann. Die Ziele des Traums oder die Vorstellung von Erfolg veränderten sich im Laufe der amerikanischen Geschichte. Während die Selbstverwirklichung und das Streben nach wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand die zentralen Ziele des amerikanischen Traums vor dem Zweiten Weltkrieg waren, wurde Erfolg ab den 1950er Jahren vor allem durch das Erreichen bestimmter Statussymbole wie Auto oder Wohneigentum definiert. Ein Haus auf einem eigenen Grundstück zu besitzen und sich frei mit dem Auto bewegen zu können, wurde zum festen Bestandteil des amerikanischen Traums, der sich vor allem im Vorstadtleben niederschlug.[12]

In großen, teuren Städten wie New York, wo Wohnraum immer weniger erschwinglich ist, ist laut dem Sozialwissenschaftler Richard Florida in letzter Zeit für viele Großstädter_innen die Vorstellung „eine Wohnung in der Stadt mieten" zu können, zu einem „Weg zu ihrem Erreichen des amerikanischen Traums"[13] geworden. Mit dem in Aussichtstellen, dass die Wohnungslotterie aus eigener Kraft zu ‚gewinnen’ ist, wird der amerikanische Traum in Zeiten finanzieller und wirtschaftlicher Instabilität hochgehalten. Wie kaum eine andere Stadt steht New York für die Vorstellung des amerikanischen Traums einer ganzen Nation – seien es die Freiheitsstatue als Symbol für Freiheit und Gerechtigkeit, das Empire State Building als einst das höchste Gebäude der Welt oder das Rockefeller Center als Zeichen für Selbstverwirklichung und unfassbaren Reichtum eines ehrgeizigen Geschäftsmannes. So scheint auch das Gewinnen der Wohnungslotterie für die meisten New Yorker_innen buchstäblich to hit the jackpot zu bedeuten beziehungsweise – um in der Rhetorik des Politikers Cornegy zu bleiben: sich den amerikanischen Traum eines ‚eigenen’ Heims zu erfüllen.

Auf den ersten Blick scheinen eine Lotterie und der amerikanische Traum weit voneinander entfernt, wenn nicht sogar gegensätzlich zu sein. Während eine Lotterie auf Glück und Zufall basiert, wird der amerikanische Traum der Vorstellung nach, nur durch Selbstdisziplin und harte Arbeit erreicht. Auf den zweiten Blick basieren hingegen beide auch auf dem liberalen Ideal eines Rechts auf Chancengleichheit. Im Unterschied zu dem sozialistischen Ideal, das eher eine Gleichheit im Ergebnis anstrebt, bedeutet Chancengleichheit hier die Möglichkeit unabhängig vom eigenen sozioökonomischen Hintergrund zu Erfolg und Reichtum zu gelangen – sei es durch Zufall in einer Lotterie oder durch Selbstdisziplin und harte Arbeit.

 

Der unerschwingliche Amerikanische Traum

Die Realität der Menschen, die erschwinglichen Wohnraum in New York benötigen, unterscheidet sich jedoch von dem, was die politische Rhetorik des amerikanischen Traums andeutet. Auch wenn die Direktorin um diese Tatsache Bescheid weiß, verschwieg sie es den Interessent_innen während der Informationsveranstaltung:

 

„Im Grunde lügst du sie an. Du sagst ihnen, klar, bewirb dich, aber in Wahrheit werden sie ziemlich sicher keine ‚erschwingliche’ Wohnung gewinnen können. [...] Das erste, was passiert, wenn du die Lotterieergebnisse ausdruckst, ist, dass du jeden ablehnst, dafür, dass er oder sie buchstäblich zu arm ist.“[14] 

 

In der Praxis heißt dies, dass jeder/jede, der/die sich unterhalb der niedrigsten Einkommensschwelle befindet, abgelehnt wird. „Du kannst es dir nicht vorstellen“, fährt sie fort, „wir senden Tausende Ablehnungsschreiben raus.“[15] Ferner gibt es laut der Direktorin noch weitere Ausschlussfaktoren. Eine dieser Faktoren ist die sogenannte 30-Prozent-Regel: Wie zuvor beschrieben, muss das Haushaltseinkommen zwischen bestimmten Einkommensstufen liegen, aber zusätzlich wird eine andere Regel angewendet, die besagt, dass die Miete nicht über 30 Prozent des Einkommens betragen sollte. Meistens wird diese 30-Prozent-Regel in der Mitte der jeweiligen Einkommensstufe festgelegt. Das bedeutet beispielsweise, wenn ein Schlafzimmer für zwei Personen – wie im Fall der Dean Street (siehe Abb.1) – zwischen rund $28.000 und $36.000 kostet, dann liegt die Dreißig-Prozent-Grenze in der Mitte bei etwa $32.000. Das heißt, bei einem Jahreseinkommen von $32.000 beträgt die Miete genau dreißig Prozent des Einkommens. In diesem Fall beträgt die Miete rund $770 im Monat. „Das Problem dabei ist“ – so die Direktorin – „dass die Leute, die am unteren Ende der Einkommensstufe sind, automatisch keine Wohnung bekommen, weil die Dreißig-Prozent-Regel nicht greift.“[16]

Neben diesen strukturell bedingten Gründen gibt es aber auch eine Reihe anderer Faktoren, warum Menschen, nachdem sie die Wohnungslotterie bereits ‚gewonnen’ haben, noch abgelehnt werden können. Ein Interviewpartner, der die Wohnungslotterie erfolgreich durchlaufen hat, erzählte mir diesbezüglich:

 

„Ich denke, der häufigste Grund für Ablehnungen ist, dass zwischen dem Zeitpunkt der Bewerbung und dem Erhalt eines Interviews sich dein Leben ändern kann. Ich kenne einen Typ, der hat sich allein beworben und dann, ein Jahr später, als er die Lotterie ‚gewann’, lebte er mit seiner Freundin zusammen, und da er sich als Single beworben hatte, war er nun nicht mehr berechtigt. Dabei versuchte er nicht, irgendjemanden auszutricksen, er war bereit, die höhere Miete mit dem höheren Einkommen zu bezahlen, aber das machte nichts, er war nicht mehr berechtigt.“[17]

 

Dass viele Menschen noch nach dem Bescheid, dass sie die Wohnungslotterie ‚gewonnen’ haben, im weiteren Verlauf des Prozesses abgelehnt werden – sei es, weil sie die Dokumente nicht rechtzeitig zusammenbekommen, sie in einen anderen Stadtteil gezogen sind oder sich das Einkommen in der Zeit verändert hat – verdeutlicht, dass die Chancengleichheit für alle, die sowohl das Lotterieverfahren als auch die Rhetorik des amerikanischen Traums suggerieren, nicht gegeben ist. Wie bereits dargelegt, sind es hauptsächlich strukturell verankerte Hürden, die es Menschen in niedrigeren Einkommensstufen schwerer macht, sich erfolgreich zu bewerben. Hinzu kommt die Tatsache, dass keine erschwinglichen Wohnungen für Menschen mit einem Jahreseinkommen von unter $20.000 gebaut werden, was zeigt, dass der Wohnungsneubau nicht für die bedürftigsten Menschen gedacht ist. Für sie degeneriert das Versprechen, auf eine gleichberechtigte Chance für alle New Yorker_innen an eine ‚erschwingliche’ Wohnung zu kommen und sich damit den amerikanischen Traum zu erfüllen, zu einem leeren Versprechen. Dass dies mittlerweile vielen einkommensschwachen Personen bewusst ist, verdeutlicht das nächste Zitat. So erzählte die Direktorin während des Interviews weiter:

 

„Wenn ich früher diese Infoveranstaltungen zum Beispiel in einkommensschwachen Vierteln gemacht habe [...] und die Menschen fragte: ‚Also, wie viele haben sich für die Wohnungslotterie beworben’, dann hoben alle ihre Hand. [...] Wenn ich aber jetzt fragte, wie viele Leute sich beworben haben, hob niemand mehr die Hand. Und ich war so verwirrt, und ich fragte: ‚Ihr wollt euch nicht für diese Lotterien bewerben?‘ Und sie sagten, dass sie zu arm seien und aufgehört haben, sich zu bewerben.“[18]

 

Gleichzeitig sind die Chancen die Wohnungslotterie zu ‚gewinnen’ für Haushalte mit einem Einkommen von bis zu rund $150.000 pro Jahr, viel höher als im niedrigen oder mittleren Einkommensbereich.[19] Für diese Haushalte wird der amerikanische Traum zu einer reellen Möglichkeit, wie die Wohnungslotterie der Dean Street zeigt, denn in den beiden höchsten Einkommensstufen lagen die Bewerbungszahlen teilweise weit unter 5.000 Bewerbungen, während sie sich in den niedrigeren Einkommensbereichen zwischen 15.000 und 25.000 bewegten.

Die sowohl mit der Rhetorik des amerikanischen Traums als auch mit dem System des Lotterieverfahrens suggerierte Chancengleichheit scheint dabei durch die aufgezeigten Widersprüchlichkeiten und strukturellen Barrieren zu politischer Propaganda zu verkommen, mit der insbesondere die einkommensschwächeren Menschen im Glauben gelassen werden, dass auch sie irgendwann die Chance auf eine (bessere) Wohnung haben, während sie versuchen mit den alltäglichen Strapazen des Findens einer bezahlbaren Wohnung in New York zu leben.

Am Ende bewarben sich insgesamt rund 83.000 Haushalte auf die 181 ‚erschwinglichen’ Wohnungen in der Dean Street. Es ist die größte Lotterie, die diese Wohnungsgesellschaft bisher durchgeführt hat. Dies scheint jedoch heutzutage Standard für große Neubauprojekte in Brooklyn oder Manhattan zu sein. Die Wohnungslotterie, die wenig später von der gleichen Wohnungsgesellschaft in der Charlton Street 535 durchgeführt wurde, zählte mehr als 93.000 Bewerbungen.[20] Das 53-stöckige Wohngebäude am Ashland Place 250, ein Neubau in der Nähe von Downtown Brooklyn und nur einen Steinwurf von der Dean Street 461 entfernt, erhielt mehr als 82.000 Bewerbungen für seine 282 erschwinglichen Wohneinheiten.[21] In Manhattan bewarben sich sogar mehr als 104.000 Haushalte in der Madison Avenue 160 in Midtown, nur einen Häuserblock vom Empire State Building entfernt[22], und in dem gläsernen Neubau am Riverside Boulevard 40 an der Upper West Side bewarben sich rund 88.000 Haushalte auf 55 ‚erschwingliche’ Wohnungen.[23] „Man könnte genauso gut Lotto spielen, dabei hat man wahrscheinlich eine bessere Gewinnchance“, scherzte die Direktorin im Interview und fügte dann ernster hinzu: „Aber das ist die Realität bedürftiger Menschen in New York.“[24]

 

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[1]                     Feldnotizen zur Infoveranstaltung, Brooklyn, New York, 16. Mai 2016.

[2]                     Vgl. Coalition for the Homeless (2018): Basic Facts about Homelessness: New York City, online unter:

                http://www.coalitionforthehomeless.org/basic-facts-about-homelessness-new-york-city/ (letzter Zugriff: 31.07.2018)

[3]                     Interview mit der Direktorin einer Wohnungsgesellschaft (anonymisiert), Brooklyn, New York, 24. August 2016.

[4]                     Alle im Text aufgeführten Zitate aus Interviews sind von der Autorin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt worden.

[5]                     Interview mit der Direktorin einer Wohnungsgesellschaft (anonymisiert), Brooklyn, New York, 24. August 2016.

[6]                     Vgl. NYC Health (2015): Brooklyn Community District 3: Bedford Stuyvesant. New York City Department of Health and Mental Hygiene, online unter: https://www1.nyc.gov/assets/doh/downloads/pdf/data/2015chp-bk3.pdf (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[7]                     Feldnotizen zur Infoveranstaltung, Brooklyn, New York, 16. Mai 2016.

[8]                     ebd.

[9]                     Weaver, Shaye (2016): City's Affordable Housing Lotteries Favor Young Single People, Stats Show. In: DNAinfo, November 16, online unter: https://www.dnainfo.com/new-york/20161116/upper-east-side/affordable-housing-lottery-demographics-winners-new-york-city/ (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[10]                   Vgl. ebd.

[11]                   Feldnotizen

[12]                   Vgl. Jobs, Sebastian (2014): American Dream. In: Stephanie Wodianka und Juliane Ebert (Hrsg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 20.

[13]                   Florida, Richard (2013): Renting the American Dream. In: Citylab, April 23, online unter: https://www.citylab.com/equity/2013/04/home-ownership-no-longer-essential-component-american-fdream/5207/ (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[14]                   Interview mit der Direktorin einer Wohnungsgesellschaft (anonymisiert), Brooklyn, New York, 24. August 2016.

[15]                   Ebd.

[16]                   Ebd.

[17]                   Interview mit Harrison (anonymisiert), 34 Jahre alt, Single, Gewinner einer Wohnungslotterie, Interview in Brooklyn, New York, 22. September 2017.

[18]                   Interview mit der Direktorin einer Wohnungsgesellschaft (anonymisiert), Brooklyn, New York, 24. August 2016.

[19]                   Vgl. Oder, Norman (2017): The Real Math of An Affordable Housing Lottery: Huge Disconnect Between Need and Allotment. In CityLimits, April 19, online unter: https://citylimits.org/2017/04/19/the-real-math-of-an-affordable-housing-lottery-huge-disconnect-between-need-and-allotment/ (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[20]                   Vgl. Bellafante, Ginia (2017): At $3,700 a Month, ‘Affordable’ Apartments Go Begging. In: The New York Times, November 17, online unter: https://www.nytimes.com/2017/11/17/nyregion/at-3700-a-month-affordable-apartments-go-begging.html (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[21]                   Vgl. Laterman, Kaya (2016): Ashland Comes to Brooklyn. In: The New York Times, July 8, online unter: https://www.nytimes.com/2016/07/10/realestate/ashland-brooklyn.html (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[22]                   Vgl. Zimmer, Amy / Chiwaya, Nigel (2015): MAP: What Are Your Chances of Winning an Affordable Housing Lottery? In: DNAinfo, Oktober 27, online unter: https://www.dnainfo.com/new-york/20151027/midtown/map-what-are-your-chances-at-spot-affordable-housing/ (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[23]                   Vgl. Navarro, Mireya (2015): 88,000 Applicants and Counting for 55 Units in ‘Poor Door’ Building. In: The New York Times, April 20, online unter: https://www.nytimes.com/2015/04/21/nyregion/poor-door-building-draws-88000-applicants-for-55-rental-units.html (letzter Zugriff: 30.07.2018)

[24]                   Interview mit der Direktorin einer Wohnungsgesellschaft (anonymisiert), Brooklyn, New York, 24. August 2016.